Licht von Oben - Buchdeckel

Ein Blick auf Trümmer und Beatas kleiner Haushalt

Das Nächstfolgende ist kurz zu erzählen.

Die Beerdigung des Greifmüllerschen Ehepaars fand an ein und demselben Tage statt. Ein großes Gefolge gab ihnen das letzte Geleite. Herr Greifmüller war in den Kreisen seiner Bekannten und Geschäftsfreunde nicht unbeliebt gewesen, und man war geneigt seine letzte frevelhafte Tat sehr milde zu beurteilen. „Mißlungene Spekulationen und unglückliche Familienverhältnisse,“ hieß es, haben ihn zu diesem Schritte getrieben. Er hat den Fall seines Hauses nicht überleben mögen. Schade um den Mann, er war ein kluger strebsamer Geschäftsmann, aber er hat in den letzten Jahren mit widrigem Geschick zu kämpfen gehabt. Jetzt ist er allen Verdrießlichkeiten überhoben. Friede seiner Asche!“ - Ich aber musste an das Haus auf Sand gebaut denken, von welchem es heißt: „Da nun ein Platzregen fiel, und kam ein Gewässer, und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall.“1 Auch Herr Greifmüller hatte sein Haus, sein Familienleben auf Sand gebaut, auf den Sand der Gewinnsucht und des Ehrgeizes; daher musste es fallen, als diese beiden Pfeiler morsch zusammenbrachen. Es fiel und tat einen großen Fall; und im Fallen begrub es ihn und sein Weib. Das einst so blühende stolze Haus bot jetzt den traurigen Anblick eines Trümmerhaufens.

Herr Bruno war der Einzige, der weder innerlich noch äußerlich von de Fall seines väterlichen Hauses sehr betroffen wurde. Er hatte nach und nach sein Vermögen aus dem väterlichen Geschäfte herauszuziehen und sicherzustellen gewußt. Und dazu war sein Herz im Mammonsdienste dergestalt verhärtet und vereist, daß er das Elend seiner Geschwister ansehen konnte, ohne dadurch im Mindesten bewegt zu werden, Für die Not und den Jammer seiner Schwestern hatte er nur das Wort: „Wie Einer sich bettet, so liegt er.“ Seine Hand tat sich nicht auf, sein Herz blieb ihnen verschlossen.

Als alle Gläubiger des Verstorbenen befriedigt waren, blieb den Erben nur eine sehr geringe Summe zur Verteilung unter sich. Auch Herr Bruno nahm den ihm gebührenden Anteil in Empfang.

Herr Benno musste sich von dem größten Teil seiner Schätze trennen. Er behielt von seinen Folianten und sonstigen Raritäten nur so viel, als er in einem mäßig großen Zimmer, das er in einem entlegenen und billigen Stadtteile für sich gemietet hatte, um sich her aufhäufen konnte. Das Übrige suchte er zu verkaufen, und der Erlös sollte das Kapital bilden, mit dessen Zinsen er seine künftigen Bedürfnisse zu bestreiten gedachte. Aber er rechnete mit falschen Zahlen, denn er hatte die Summen in seine Berechnung gezogen, welche seine Liebhabereien gekostet hatten; der Erlös aber erreichte nicht den zehnten Teil der einst verausgabten Summen. Deshalb sah sich Herr Benno genötigt, von seiner olympischen Höhe etwas herabzusteigen und an einer Privat-Knabenschule Sprachunterricht zu geben.

Bertha war mit ihren drei Kindern am übelsten dran. Ihre Gesundheit hatte durch Kummer und Aufregungen der schmerzlichsten Art sehr gelitten; sie sah sich gänzlich außer Stande, für sich und ihre Knaben zu sorgen.

Da kam die Hilfe von einer Seite, von der man sie am wenigsten erwartet hatte. Ein älterer Bruder des Barons, Besitzer des Stammgutes der Familie, bot seiner Schwägerin und ihren Knaben freien Aufenthalt auf seinem Gute an. Von seinem Bruder hatte er sich schon seit Jahren losgesagt.

Bei Berthas Abschied hatte ich das Gefühl, daß sie die Gastfreundschaft ihres Schwagers wohl nicht lange in Anspruch zu nehmen haben werde. Und so kam es; schon im folgenden Frühjahr hatte ihr gequältes und geängstigtes Herz ausgeschlagen, und sie durfte ihr müdes Haupt in den Schoß der Erde betten. Gott gebe ihr eine fröhliche Auferstehung!

Der Baron blieb vorläufig für uns verschollen.

Als am Beerdigungstag der Eltern die blumengeschmückten Särge zum Hause hinausgetragen waren, warf Beata sich in meine Arme und rief: „Cornelia, verlaß mich nicht, ich habe auf der ganzen Welt ja nur dich allein.!“ Es war dies ein Angstruf aus einer gepressten Menschenbrust, mir aber erklang er wie ein Ruf von oben an mich; ich sah darin den Finger Gottes und eine Antwort auf mein Gebet am Morgen: „Herr, zeige mir den Weg, den ich gehen soll!“ Ich antwortete daher ohne Zögern: „Ich bleibe bei Dir, so lange Du mich nötig hast.“

Hiermit war ein Bund geschlossen, der durch Gottes Gnade für uns beide zu einem Segen geworden ist.

Noch an demselben Abend packte ich meine Koffer und zog zu Beata.

So lag denn abermals ein Lebensabschnitt hinter mir. Sieben Jahre war ich im Greifmüllerschen Hause gewesen und durfte mit dankbarer Freude auf dieselben zurückblicken. Ich hatte in diesem Hause viel Gutes erfahren: mein Blick für die Dinge dieser Welt hatte sich erweitert; mein Wissen und Können war bereichert worden; manche freundliche Beziehungen hatte ich angeknüpft; persönliches Leid war mir in diesem Hause nicht widerfahren, wenn ich auch gar oft Gelegenheit hatte, mit den Weinenden zu weinen und mit den Traurigen traurig zu sein.2

Die ersten Wochen unseres Zusammenlebens verbrachten Beata und ich in ängstlicher Spannung. Wie würde der Prozess gegen Dr. Rinnstein ausfallen! Das war unsere tägliche Sorge und Frage.

Die Richter waren geneigt, verschiedene Milderungsgründe anzunehmen, und so fiel ihr Urteilsspruch günstiger aus, als wir zu hoffen gewagt hatten; er lautete auf ein Jahr Zuchthaus. Aber was dann? Der Verurteilte selbst hatte den Entschluß ausgesprochen, nach seiner Freilassung Europa zu verlassen und nach Amerika zu gehen. Das war auch gewiß das Beste; denn was sollte er mit dem Kainszeichen3 an seiner Stirne in seiner Heimat machen? Weib und Kind aber konnten ihn in die ungewisse Ferne nicht begleiten; er selbst wünschte es auch nicht. So mussten wir denn schon jetzt darauf Bedacht nehmen, selbst für unseren Unterhalt zu sorgen.

Nachdem Beata mit dem Wenigen, das aus der Hinterlassenschaft ihres Vaters auf sie gekommen war, die Schulden ihres Mannes bezahlt hatte, blieb ihr kaum ein nennenswerter Rest. Wir gingen also daran, unsere Einrichtung für die Zukunft nach dem möglichst kleinsten Zuschnitt zu machen. In einer Vorstadt mietete Beata eine kleine Mansardenwohnung in einem Hintergebäude: Dieselbe bestand aus einer ziemlich geräumigen Stube mit einer Kammer an jeder Seite; in der einen sollte ich, in der anderen sollte sie mit der kleinen Cornelia schlafen. Eine kleine Küche gehörte ebenfalls zu dieser Wohnung.

Von ihren Möbeln behielt Beata so viele, als sie in der kleinen Wohnung unterzubringen imstande war, die übrigen wurden verkauft. Das dafür gelöste Geld legte sie zurück, um es ihrem Manne nach seiner Freilassung zu seiner Überfahrt nach Amerika auszuhändigen. Unsern Unterhalt wollte sie durch Unterricht in der Musik und den neuen Sprachen verdienen.

Als ich unsere Wohnung zum ersten Mal betrat und in die Kammer blickte, hätte ich vor Freuden laut aufjauchzen mögen, denn jede Kammer hatte ein Dachfenster. „Beata“ rief ich, „hier ist gut wohnen, denn hier haben wir Oberlicht!“ Beata lächelte trübe; ich hatte ich schon oft von meinem früheren Dachfensterchen und dem Segen erzählt, den dasselbe mir gebracht, aber ihr Herz war noch nicht geöffnet für die Strahlen der ewigen Sonne.

Am ersten September 1841 bezogen wir unsere kleine Wohnung, und dieselbe gewährte, nachdem sie eingerichtet worden, wirklich einen sehr behaglichen Eindruck. Natürlich durften wir hierbei nicht an unsere früheren Verhältnisse denken. Beata war sehr geneigt, dies zu tun, deshalb sagte ich zu ihr: „Liebe Beata, wenn es erlaubt ist, das geistlich gemeinte auch einmal auf das Irdische anzuwenden, so laß uns getrost mit dem Apostel Paulus sprechen: „Ich verlasse, was dahinten ist und strecke mich nach dem, was da vorne liegt.“4 Und weiter laß uns versuchen, mit demselbigen Apostel sprechen zu lernen: „Ich kann hoch sein und ich kann niedrig sein, ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“5

In dieser Wohnung erhielten Kruzifix und Schattenrisse wieder ihren Platz über meinem Bett.

Ehe wir uns am ersten Abend in unserer neuen Wohnung zur Ruhe legten, bat ich Beata, mit ihr6 zusammen meine Abendandacht halten zu dürfen. Sie nickte schweigend. Ich holte meine Bibel und las das zwölfte Kapitel des Hebräerbriefes. Beata lehnte mit geschlossenen Augen im Sofa, aber ich sah, wie große Tränentropfen zwischen ihren geschlossenen Augenlidern hervorperlten. Nach dem Lesen betete ich das Vaterunser7 und den Segen8, und damit war unsere erste gemeinschaftliche Abendandacht beendet.

Als ich Beata gute Nacht sagte, preßte sie mich fest an sich und sagte: „Cornelia, wenn es wahr ist, daß jeder Mensch seinen Schutzengel hat, dann bist Du der meinige!“

In der Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Beata und ich mussten an einer Strickleiter emporsteigen. Ich kletterte vorauf, sie hinter mir her. Es war saure Arbeit, und ein paar Mal wollten wir schier verzagen. Es war finstere Nacht, kein Stern zu sehen, um uns heulte der Sturm, die Glocken läuteten und seltsame Lichter zuckten auf. Mehrere Mal geriet die Leiter in eine so schwankende Bewegung, daß wir uns nur mit der äußersten Kraftanstrengung zu halten vermochten. Wir kletterten indes mutig weiter, die ganze Nacht. Allmählich legte sich der Sturm, und das Klettern war weniger beschwerlich. Dann kam die Morgendämmerung, der Hahn krähte, und – das Ende der Leiter war erreicht. Wir standen auf einer Hochebene. In diesem Augenblicke ging vor uns die Sonne auf und warf ihre Strahlen über ein weites, uns unbekanntes Land. Beata rief: „Hier ist es schön, hier laßt uns bleiben!“ In einiger Entfernung ward die Gestalt eines Mannes sichtbar, der auf uns zuschritt; ich wollte Beata auf die Erscheinung aufmerksam machen, aber die Sprache versagte mir. Gleichzeitig fühlte ich, daß ich sank; ich sank tiefer und tiefer, bis ich zusammenschreckend erwachte. Ich lag in meinem Bette, aber es währte geraume Zeit, bis ich mich auf den wirklichen Stand der Dinge besinnen konnte.

Es gelang Beata sehr bald, die gewünschten Unterrichtsstunden zu bekommen; der Kreis ihrer Bekannten war groß, und ihr Schicksal erregte allgemeine Teilnahme. Sie war fast den ganzen Tag außer dem Hause mit Unterrichtgeben beschäftigt. Ich blieb daheim, besorgte unseren kleinen Haushalt, achtete auf Cornelia und nähte und strickte außerdem für Geld.

An jedem Sonnabend-Abend überrechneten wir den Verdienst der Woche und zogen von demselben die gehabten Ausgaben ab. Wir führten im Kleinen ein Stück der ersten apostolischen Zeit auf, denn auch von uns konnte es heißen: „Keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein.“9

Bei Beata habe ich aufs neue Gelegenheit gehabt, so recht den Segen der Arbeit schätzen zu lernen, und oft habe ich gedacht: Unser Gott kann doch nichts ohne Segen tun, nicht einmal strafen, denn welch ein Segen liegt z.B. in Seine großen allgemeinen Strafbekenntnis: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“10 Beata wurde unter ihrer anstrengenden Arbeit allmählich immer heiterer, sie gesundete an Seele und Leib; der letzte Rest von Schwärmerei, der ihr noch anhaftete, verschwand und machte einem gesunden Aufschwung der Seele Platz. Die vielen und weiten Gänge, die sie täglich bei jedem Wetter machen musste, kräftigten ihre Gesundheit, indem sie ihren Körper abhärteten.

Der Winter kam und ging, wir merkten es kaum, denn jeder Tag brachte uns dasselbe: Arbeit vom Morgen bis zum Abend, und wir dankten Gott dafür. Die Sonntage machten eine Ausnahme; an denen wurde nicht ums Brot gearbeitet. Hierauf hielt ich von Anfang an, und auch Beata fühlte, daß ihr nach sechs Arbeitstagen, von denen jeder seine volle Last trug, ein Ruhetag notwendig sei. Am Sonntag Morgen ging abwechselnd eine von uns zur Kirche; Am Sonntag Nachmittag aber saßen wir still in unserem Stübchen, lasen uns vor und ergötzten uns an den Sprechversuchen der kleinen Cornelia. Wir pflegten scherzend zu sagen, die Kleine sei uns Vogel, Blume und Sonnenschein in einer Person. Und in der Tat glich ihr fröhliches, unaufhörliches, aber noch durchaus unverständliches Geplauder dem munteren Zwitschern eines Waldvögeleins; das weiche, freundliche Lächeln auf dem rosigen Kindergesichtchen war der Sonnenschein unseres Stübchens, und sie selbst war eine liebliche, zarte Menschenblume, die sich von Tag zu Tag mehr entfaltete.

Auch an „guten Freunden und getreuen Nachbarn“ fehlte es uns nicht. In dem Vorderhause wohnte ein Arzt Dr. Reischau, welcher eine große Kinderschar – von ihm seine Orgelpfeifen genannt – besaß. Von diesen Orgelpfeifen waren zwei uns ganz besonders zugetan, der zehnjährige Franz und die dreijährige Agnes. Dies kleine Pärchen besuchte uns täglich. Franz brachte sich gewöhnlich ein Buch zum Lesen mit; Agnes und Cornelia spielten zusammen, wobei sie sich häufig wie junge Kätzchen auf dem Teppich umherkugelten.


Der Frühling 1842 kam, und der Morgen des 5. Mai brach an, jenes großen Unglückstages, an welchem der Brand begann, der in wenigen Tagen über viertausend Gebäude in Asche legte und viele, viele tausend Menschen obdachlos, brotlos und unglücklich machte. Wir blieben vom Brande verschont, das war eine große Gnade Gottes; aber hier trug einer des anderen Last, denn den Jammer und das Elend, dazu das immer weiter um sich greifende Feuer anzusehen, war fast mehr, als ein Menschenleben zu ertragen vermochte. Wir schienen von Gottes Barmherzigkeit verlassen und ganz seinem gerechten Zorn anheim gegeben zu sein.

Beata blieb mit der Kleinen in unserer Wohnung, ich eilte nach der Brandstätte, um zu helfen, wo ich helfen konnte. Welche Bilder des Jammers und der Verzweiflung entrollten sich da meinen Blicken! Das Feuer spottete allen Anstrengungen der Menschen, es zu löschen; schien dasselbe an einer Stelle bewältigt, so brach es dafür an zehn anderen Stellen wieder aus. Wer Augen dafür hatte, der konnte hier sehen, was in Psalm 104, 4 geschrieben steht: „Du machst Deine Engel zu Winden und Deine Diener zu Feuerflammen.“ Das sahen aber nur wenige, die meisten dachten an nichts als an Rettung ihres Lebens und ihrer Habe. Alles lief, rannte, schrie und wehklagte wild durcheinander.

Über diesem Bilde umsichgreifender Zerstörung ging zu dritten Mal die Sonne auf, es war der siebente Mai. Das Feuer hatte den Turm der alten herrlichen St. Peterskirche, der ältesten der ganzen Stadt, ergriffen. Die Versuche, dies Denkmal mittelalterlicher Baukunst zu retten, blieben gleichfalls erfolglos; das Feuer drang weiter und weiter, bald stand der ganze Turm in lichter Glut. Da schlug die Uhr im brennenden Turme mit langsamen, hallenden Schlägen eine volle Stunde. Der letzte Ton verstummte; es begann das Glockenspiel, und aus den Flammen heraus hin über die wogende Menge der rennenden, schreienden Menschen erklang die herrliche Melodie: „Allein Gott in der Höh sei Ehr!“

Das war für alle, die es hörten, ein überwältigender Augenblick und zog die Herzen und Gedanken mit unwiderstehlicher Gewalt von de Jammer dieser Erde hinauf zum Herrn des Himmels. Jetzt beugte der Turm, der seit Jahrhunderten, hoch über alle Gebäude der Stadt emporragend, wie ein Riesenfinger nach Oben gewiesen hatte, seine Spitze und stürzte in das Flammenmeer zu seinen Füßen, sein Haupt tief in den Schoß der Erde bohrend.

„Wo Menschen schweigen, da werden die Steine schreien.“11 Hier war es das Glockenspiel im St. Petersturme, das mitten in Zerstörung, Not und Tod dem Herrn die Ehre gab.

Am achten Mai, nachdem das Feuer vier volle Tage gewütet, ward man endlich Herr desselben; aber die große, schöne, stolze, freie Reichsstadt bot jetzt ein Bild unbeschreiblichen Jammers.

Auch in unser Leben griff die Feuersbrunst zerstörend ein, den Beatas Lehrstunden hörten zum größten Teil auf. Wer mochte jetzt an Unterrichtnehmen denken? Dazu waren die meisten Häuser, in denen sie unterrichtet hatte, niedergebrannt und die Bewohner derselben weit umher zerstreut. Sorgenvoll blickten wir in die Zukunft; aber unser treuer Gott hatte den Raben schon bestellt, der uns in der Zeit der Not ernähren sollte.12 Kaum hatten wir angefangen, die Folgen von Beatas Verdienstlosigkeit zu empfinden, als auch schon unser Rabe in der Gestalt von Franz Reischau in unser Zimmer trat und mit einem schönen Gruß von seiner Mama uns einen großen Korb voll Lebensmittel brachte. Dies wiederholte er von Zeit zu Zeit. Zuweilen kam auch Frau Doktor Reischau selbst, um nachzusehen, woran es uns fehle. Diese Frau verstand die hohe Kunst, durch Wohltaten auch zugleich innerlich wohlzutun, eine Kunst, welche nicht alle Menschen verstehen und die das Zeichen eines sehr zarten, feinfühligen Herzens ist.

In der schweren Zeit allgemeiner großer Not hat es uns nie am Nötigsten gefehlt. Dies schreibe ich hier nieder meinem Gott zu Ehren, der gesagt hat: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.“13 Er hat treulich sein Wort an uns gehalten: und wenn er mich einst fragen wird: „Hast du je Mangel bei Mir gehabt?“ dann werde ich Ihm mit einem recht herzfröhlichen: „Nie, Herr, keinen!“14 antworten.


Im August lief die Strafzeit des Dr. Rinnstein ab. Er wollte sich gleich nach seiner Freilassung für Amerika einschiffen und hatte Beata schriftlich um ein Wiedersehen an einem dritten Orte gebeten. „Deine friedliche kleine Wohnung zu betreten,“ schrieb er, „bin ich nicht wert; ebensowenig vermag ich unser Kind, unser liebes, süßes Kind, wiederzusehen. Der Fluch meiner Missetat treibt mich hinweg von der gesegneten Stätte, da Ihr weilet; weit hinweg!“

Wir hatten seine Garderobe, so gut wir es vermochten, in Stand gesetzt und packten nun zwei große Koffer voll Sachen für ihn ein, wobei die Liebe Beata immer noch an neue Kleinigkeiten denken ließ, die ihm entweder auf der Reise oder dort in Amerika möglicherweise nützlich oder angenehm sein konnten.

Über das Wiedersehen mit ihrem Manne hat Beata nie gesprochen; aber es muss wohl sehr schmerzlich und erschütternd gewesen sein, denn sie war mehrere Tage krank, und es währte eine geraume Zeit, bis sie ihre gewohnte Stimmung wieder erlangte.

Der erste Brief des Dr. Rinnstein meldete nur seine glückliche Landung nach einer stürmischen Überfahrt. Dann verging eine lange Zeit, in der wir nichts von ihm hörten. Wir kletterten unverdrossen die Strickleiter hinauf, d.h. Wir arbeiteten Tag für Tag angestrengt ums tägliche Brot. Mit dem Winter hatte Beata aufs neue hinreichend Stunden zu geben. Unser Rabe brauchte nicht mehr zu kommen.

Obgleich Beatas Gedanken, wie ich aus einzelnen Äußerungen schließen konnte, viel drüben in Amerika waren, so erwähnte sie ihres Mannes nur selten gegen mich. Es war mir dies sehr lieb, denn ich sah hierin einen Fortschritt ihres inneren Lebens.

Diejenigen, die nach Gottes Willen uns die Nächsten sein sollen, können es nur so lange bleiben, als wir niemand zwischen sie und uns treten lassen. Dies geschieht aber, indem wir über sie zu einer anderen Person sprechen, denn dadurch machen wir sie zur dritten Person, und die zweite Person tritt naturgemäß zwischen sie und uns. Diese Reihenfolge herrscht nicht nur in der Grammatik, sondern wir können sie auch jederzeit in unserem Seelenleben beobachten.

Ich empfehle diese oft gemachte Erfahrung meinen lieben Nichten und allen jungen Mädchen, welche diese Blätter etwa lesen sollten, zur besonderen Erwägung und Nachachtung. Es kann dadurch viel Leid verhütet werden.


Drei Jahre waren vergangen, seitdem Dr. Rinnstein Europa verlassen hatte; da brachte der Postbote den zweiten Brief von ihm. Beata griff mit bebender Hand nach demselben und eilte in ihre Kammer, um ihn zu lesen. Ich hörte sie weinen, und es währte lange, bis sie wiederkam. Aber ihr Gesicht war heiter und sie lächelte durch Tränen, als sie sich zu mir setzend sagt: „Cornelia, ich glaube, es kann noch alles gut werden.“ Dann erzählte sie mir, wie ihr Mann in den ersten beiden Jahren sich habe entsetzlich kümmerlich durchschlagen müssen, seit einem halben Jahre aber habe er eine Stelle in einem großen Speditionsgechäfte, die ihn nicht nur hinreichend ernähre, sondern ihm sogar die Möglichkeit biete, sich etwas zu erübrigen. Von seinen Ersparnissen wolle er ihr regelmäßig ale halbe Jahr schicken. Die ersten fünfzig Dollars lagen in dem Briefe.

Da war ein Freudentag für uns! Das Geld brachte Beata nach der Sparkasse, denn das sollte für die kleine Cornelia bleiben; sie setzte ihren Stolz darein, auch ferner allein für sich und ihr Kind zu sorgen.

Als wir uns zu unserer Abendandacht niedersetzten, sagte Beata: „Heute ein Lob- und Danklied, nicht wahr, Cornelia?“ Ich las den 103. Psalm und darauf aus meinem Paul Gerhardtschen Liedern das unvergleichliche: „Sollt` ich meinem Gott nicht singen?“

Es war ein einfacher Gottesdienst, der hier gehalten wurde, und eine kleine Gemeinde, die ihr Dankopfer darbrachte; aber der Herr Jesus war seiner Verheißung nach mitten unter uns und bot uns seinen segnenden Gegengruß: „Friede sei mit euch!“ Das spürten wir an unseren Herzen; noch nie hatten wir uns so glücklich zur Ruhe gelegt, wie an diesem Abend.

Dr. Rinnstein hielt, was er versprochen; er schrieb von jetzt an regelmäßig alle halbe Jahr und schickte von seinen Ersparnissen oft nicht unbedeutende Summen, welche aber stets sogleich in die Sparkasse wanderten.

In dem Jahre 1847, dem großen Not – und Hungerjahre, war auch bei uns Schmalhans Küchenmeister; und hätten wir nicht schon ein Weniges vor uns gebracht gehabt, so würde es uns schlimm ergangen sein, denn Beata konnte sich nicht entschließen, das von ihrem Mann geschickte Geld anzugreifen.

Im Herbst diese Jahres kam ein ungewöhnlich dicker Brief von Dr. Rinnstein an. Als Beata denselben gelesen, sagte sie: „Cornelia, aus diesem Briefe muss ich Dir etwas wörtlich vorlesen, denn es wird dich freuen, dasselbe mit Roberts eigenen Worten zu hören; ich weiß es.“ Sie las:

„Es ist mir in dem letzten halben Jahre etwas sehr Merkwürdiges begegnet, was ich Dir ausführlich erzählen muss. Schon öfter hatte ich von einem hiesigen Prediger gehört, zu dem die Menschen bei Tausenden in die Kirche strömen. Vor etwa acht Wochen, als ich gerade nichts anderes anzufangen wußte, trieb mich die Neugier, diesen viel besprochenen Redner auch einmal zu hören. Ich ging in die Kirche und setzte mich in einen entlegenen Winkel, doch so, daß ich die Kanzel sehen konnte.

Der Gesang interessierte mich wenig, und schon bereute ich es, meine Zeit nicht besser angewendet zu haben, als der Prediger auf der Kanzel erschien. Er als einen Abschnitt aus der Bibel vor und fing an, denselben auszulegen. Anfangs interessierte auch dies mich wenig, bald aber wurde ich aufmerksamer, weil es mir vorkam, als richte der Mann alle seine Worte ausschließlich an mich und als sei ihm meine ganze Vergangenheit bekannt. Dies nahm mich umso mehr Wunder, als ich es nicht für möglich halten konnte, von dem Prediger in dem dunklen, entlegenen Winkel bemerkt zu werden.

Die Sache beschäftigte mich die ganze Woche hindurch und zog mich am folgenden Sonntage wieder in die Kirche. Meinen Winkel fand ich schon besetzt und erhielt einen Platz im Mittelschiff der Kirche, gerade der Kanzel gegenüber. Ich war sehr gespannt auf die Predigt. Der Pastor verlas das Gleichnis vom verlorenen Sohn15. Schon dies frappierte mich, mehr aber noch die Auslegung desselben. Er wandte sich wieder – wenigstens schien es mir so – ausschließlich an mich. Er sprach von meinen Sünden, die mich aus der Heimat fort und über das Meer getrieben, deren Fluch mich aber auch hier verfolge und verfolgen werde, bis ich meine Bürde am Fuße des Kreuzes niedergelegt. Dabei ruhten die großen dunklen Augen des Predigers unerwartet auf mir. Das war mir doch zu viel; nach beendigtem Gottesdienste suchte ich den Prediger in seiner Wohnung auf. Er empfing mich freundlich und reichte mir die Hand.

„Kennen Sie mich?“ fragte ich ihn.

„Bis jetzt noch nicht,“ war seine Antwort.

„Aber sie haben sich doch in Ihrer heutigen Predigt ausschließlich an mich gewandt.“

Er lächelte und antwortete: „Das kommt daher, weil Sie dasselbe sind, was wir alle sind, ein armer Sünder.“

Ich entgegnete: „Daß ich es bin, das weiß ich wohl, aber alle Menschen sind es doch nicht.“

„Doch,“ sagte er, „von Natur sind wir alle ohne Ausnahme arme, verlorene Sünder, aus denen nur die Gnade Gottes etwas anderes machen kann.“

„Das verstehe ich nicht,“ entgegnete ich, einigermaßen verwirrt.

„Das glaube ich Ihnen,“ sagte er, mir freundlich die Hand auf die Schulter legend. „Heute ist meine Zeit besetzt, aber kommen Sie morgen Abend zu mir, dann wollen wir weiter über diesen Gegenstand sprechen; er liegt Ihnen am Herzen, wie ich sehe.“

Am folgenden Abend stellte ich mich zur bezeichneten Stunde bei ihm ein. Er empfing mich so herzlich und zutraulich wie einen alten Bekannten. Ich blieb etwa zwei Stunden bei ihm, und in dieser Zeit hat der liebe Mann mir eine bis dahin unbekannte Welt aufgeschlossen. Er hat mir das Wesen der Sünde klargemacht und mir gezeigt, wie dieselbe mit uns geboren und groß wird, ja, wie sie uns über den Kopf wächst und uns in Fesseln schlägt, also daß wir ihr dienen müssen wie der Sklave seinem Herrn. Sie führt uns von einem Verderben in das andere und zieht uns zuletzt hinab in den ewigen Tod.

Aus dieser Knechtschaft der Sünde vermögen weder wir uns selbst, noch andere Menschen uns zu befreien; das vermag allein der Mensch gewordene Gottessohn, Jesus Christus, indem er an unser Statt im Voraus den Fluch der Sünde auf Sich genommen und die Strafe derselben getragen.

Durch den Glauben gewinnen wir Anteil an dieser stellvertretenden Genugtuung des Mensch gewordenen Gottessohnes und erhalten zugleich von Ihm die Kraft, uns aus den Fesseln der Sünde frei zu machen.

Alles, was er sagte, war so klar und überzeugend, daß ich ihm nicht zu widersprechen vermochte, sondern daß meine Seele es aufnahm, wie das dürre Erdreich den erquickenden Regen trinkt. Ja, auch meine Seele ist geknechtet gewesen von der Sünde von Jugend auf. In besseren Stunden sehnte ich mich von ihr frei zu werden und hatte das Gefühl, daß es doch eine noch größere Macht als meine Leidenschaften geben müsse, aber ich kannte sie nicht, und niemand nannte sie mir. Da lernte ich Dich kennen, Beata, und glaubte nun, die Liebe sei die Macht, die mich aus der schmählichen Knechtschaft meiner Leidenschaften befreien könne. Aber auch sie erwies sich als zu schwach hierzu. Eine Zeit lang gelang es mir, Dir zu Liebe meine Leidenschaften niederzuhalten, dann aber erhoben sie sich um so mächtiger und rissen mich wieder mit sich fort, weiter und weiter ins Verderben hinein, bis ich als ein geächteter Brudermörder die Heimat verließ.

Ich bin noch oft bei dem Prediger gewesen, und der Mann Gottes hat mir die heilige Schrift erklärt und mir viele gute Bücher zu lesen gegeben. Auch jetzt noch gehe ich regelmäßig jeden Montag Abend zu ihm. Heute habe ich aus seiner Hand das heilige Abendmahl empfangen, es war das erste Mal nach meiner Konfirmation, daß ich zum Tisch des Herrn gewesen bin! Es war eine selige Stunde, Beata! Jetzt weiß ich, daß Gott mir alle meinen schweren Sünden, welche ich durch meine Tränen vergebens hinwegzuwaschen gesucht, um Seines Sohnes, meines Heilandes, willen vergeben hat, und das außer der, dessen Leben ich in wahnsinniger Wut freventlich gekürzt habe, mich nichts mehr vor Gott verklagen darf!

Oh Beata, weshalb habe ich alles dies nicht schon in Europa gehört? Im Hause meiner Eltern war von Gott und Gottes Wort nie die Rede; das Wort Sünde habe ich, so viel ich weiß, als Kind nie gehört; nur vor dem Unrecht ward ich gewarnt. Wie mein Konfirmationsunterricht gewesen ist, weiß ich nicht; Eindruck hat er nicht auf mich gemacht. Nach meiner Konfirmation bin ich nie wieder in der Kirche gewesen; dort würde ich vielleicht das Rechte gehört haben. Die Schuld fällt also auf mich. Auch Du, Beat, hast dies nicht gehabt, was mir fehlte, sonst würdest Du es mir in Deiner Liebe mitgeteilt haben. - Ach, auch Dein Lebensglück habe ich zerstört, aber mit Gottes Hilfe soll es noch wieder besser werden!“

Beata hatte mit großer Bewegung gelesen und oftmals inne halten müssen, weil ihr die Stimme versagte. Jetzt faltete sie den Brief zusammen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte. Ich störte sie nicht. Die Tränen sind uns als eine Wohltat vom Schöpfer geschenkt; sie erleichtern physisch das gepresste Herz, wie milde Trostworte die Seele erquicken.

Nach einer Weile trocknete sie ihre Tränen, und ich sagte: „Liebste Beata, wir müssen dem lieben Gott aber doch sehr dankbar sein, daß Er Deinem Manne die Augen geöffnet und die Quelle des Heils hat erkennen lassen. Er selbst ist fröhlich darüber; laß es uns auch sein! Und sei überzeugt, daß die Engel im Himmel sich mit uns freuen.“

„Ja,“ entgegnete Beata, aufs neue schluchzend, „ich danke Gott auch so recht von Herzen für die Rettung meines Mannes, aber zugleich gehen auch mir die Augen auf über meinen Anteil Schuld an seiner Sünde, und das ist`s was mich weinen macht. Robert hat nie das Rechte gehört; aber ich hätte es wissen können, mir ist es entgegen gebracht. Du hast es mir unzählige Male gesagt; ich aber mochte es nicht hören und noch weniger annehmen. Hätte ich es angenommen, dann würde ich es wieder meinem Manne haben entgegen bringen können, und er hätte es vielleicht von mir angenommen und würde nicht so tief gefallen sein. Oh, Cornelia, meine Sünde ist groß, das erkenne ich jetzt!“

Ich sagte: „Liebe Beata, so groß auch Dein Schuldanteil sein mag, so reicht die stellvertretende Genugtuung unseres Herrn Jesus doch aus, um auch ihn zu decken.“

Wir sprachen noch lange über diesen Gegenstand. Wie ich schon im vorigen Kapitel bemerkt habe, fanden die über das Diesseits hinaus liegenden Dinge nur schwer Eingang bei Beata; sie war ein Kind dieser Welt ohne besondere Tiefe, wenn auch mit einer großen Empfänglichkeit für alles Schöne und Hohe. Den Allerschönsten und Allerhöchsten hatten ihre Augen noch nicht geschaut. In den Jahren unseres Zusammenlebens waren ihr die himmlischen Dinge allmählich bekannt, ja sogar geläufig geworden, aber dennoch hing eine Decke vor ihren Augen, und auf ihrem Herzen lag ein Bann. Dieser Brief ihres Mannes jedoch zog mit einem Mal die Decke von ihren Augen - sie erkannte ihre Sünde - und sprengte den Bann ihres Herzens, daß die Türen desselben sich weit auftun konnten für die allerbarmende göttliche Gnade.


Die Zeit, welche nun in unserm Zusammenleben folgte, war eine sehr schöne; Beata sprach gern von dem, was ihr Herz bewegte, und wir verstanden uns so gut. Obgleich die um uns herrschende Not sich auch in unserm kleinen Haushalte spürbar machte, so konnten wir von jetzt an doch eigentlich nichts als Lob- und Danklieder singen. „Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich,“16 das war die Grundstimmung unserer Seelen.

Die kleine Cornelia entwickelte sich geistig und leiblich, daß es unsere Wonne war, sie anzuschauen.

Herr Benno besuchte uns von Zeit zu Zeit des Abends zum Tee. Seitdem er seine olympische Höhe hatte verlassen müssen, hatte sein Äußeres eine vorteilhafte Umwandlung erfahren: sein Anzug war geordnet, sein Haar kürzer geschnitten und leidlich frisiert; er sah beinahe aus wie andere Menschen. Als ich ihm einst meine Freude über diese Umwandlung aussprach, antwortete er seufzend: „Ach ja, man zieht mich ganz auf diese gemeine Erde herab!“

Von Herrn Bruno Greifmüller und seiner Familie sahen und hörten wir nur selten etwas. Sein Haus war mit abgebrannt, aber er hatte den größten Teil seiner Sachen gerettet und sich danach ein noch größeres und schöneres aufgebaut. Sein Bruder Benno sagte von ihm: „Er ist dem Vogel Phönix gleich aus dem Brande hervorgegangen, schöner und stolzer denn vorhin.“

Um die Weihnachtszeit besuchte uns ein früherer Kamerad des Barons von Bierfeld, um sich nach Bertha und ihren Kindern zu erkundigen. Derselbe erzählte uns, daß er im vergangenen Sommer in Homburg am Roulettetische in einem der Croupiers den Baron von Bierfeld erkannt habe. Derselbe müsse auch ihn erkannt haben, denn er sei sichtlich bemüht gewesen, sein Gesicht vor ihm zu verbergen. Der Baron hatte den Eindruck eines tief gesunkenen Menschen gemacht, „er hat nie ein ansprechendes Gesicht gehabt,“ setzte der Herr hinzu, „jetzt aber ist es die richtige Galgenphysiognomie.“

„Arme Bertha,“ dachte ich, „welch ein Glück, daß Du dies nicht mehr auf Erden zu hören brauchst!“


Das Jahr 1848 brachte die große Revolution, welche fast alle Throne Europas erschütterte und deren Schwingungen auch in unserer Stadt sehr spürbar waren. Brachte die Revolution auch nicht den gehofften Völkerfrühling, so rüttelte sie doch das geistige Leben unseres Volkes aus langem Schlafe auf; und das ist ein großer Segen, den sie uns gebracht hat. Für das geistliche Leben unseres Volkes beginnt mit dem Jahre 1848 eine neue Ära.

In unserm stillen Stübchen und unserm beschränktem Wirkungskreise spürten wir nur wenig von den nachteiligen Folgen der Revolution, wenn auch Beata eine kleine Einbuße an Unterrichtsstunden erlitt.

Mit ihrem Manne wechselte Beata jetzt regelmäßig alle Vierteljahr Briefe. Jetzt, da sie sich beide auf den Felsen der ewigen Wahrheit gegründet hatten, ging ihnen der Stoff zum Briefschreiben nie aus, und ihre Briefe wuchsen manchmal förmlich zu kleinen Büchern an. Es war, als hätten sie sich erst jetzt gefunden. Und das war auch in der Tat der Fall, denn sie liebten sich mit einer neuen, in Gott geheiligten Liebe. Beata selbst sagte einmal, sie glaube, jetzt erst fange ihr Brautstand an. Auch ihr Äußeres zeigte bald die glückliche Einwirkung dieser inneren Umwandlung, sie ward so frisch und jugendlich, daß sie mich zuweilen an ihre Mädchenzeit erinnerte, besonders wenn sie sich einmal in einer launigen Anwandlung zu einem Zitat aus Schiller hinreißen ließ.

So schwand uns Jahr um Jahr, und es kam das Jahr 1852.


1)  Matthäus 7,27

2)  Römer 12,15

3)  In Anlehnung an 1.Mose 4,8-15 ist hier gemeint, dass er als Totschläger überall bekannt ist.

4)  Philipper 3,13

5)  Philipper 4,12-13 gekürzt

6)  Im Original steht der Text: ... bat mich Beata, mit mir ...

7)  Matthäus 5,9-13

8)  Vermutlich meint sie 4.Mose 6,24-26

9)  Apostelgeschichte 4,32 gekürzt

10)  1.Mose 3,19 gekürzt

11  In Anspielung an Lukas 19,40

12)  Dies bezieht sich auf die Geschichte in 1.Könige 17, wo der Prophet Elia während einer Hungersnot von Raben versorgt wird.

13)  Josua 1,5

14)  Dies bezieht sich auf Lukas 22,35

15)  Lukas 15,11-32

16)  Psalm 126,3


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