Licht von Oben - Buchdeckel

Die gelehrte Gouvernante

Wir alle sahen dem Kommen der Gouvernante erwartungsvoll entgegen. Sie selbst hatte ihre Ankunft auf den 15. Oktober festgesetzt. Am 14. jedoch erhielt der Doktor eine Brief, in welchem sie dieselbe noch vierzehn Tage hinausschob, weil sie erst noch einige notwendige Geschäfte abwickeln müsse. Der Doktor las mir diesen Brief „im höheren Stil“, wie er es nannte, vor. Pauline, welche an einem Socken für ihren Papa strickend auf einer Fußbank neben mir saß, und wohl von dem ganzen Briefe wohl nur das „Abwickeln“ begriffen hatte, sagte, als der Doktor sich entfernt:

„Tante Cornelia, es muss aber doch sehr viel Strumpfgarn sein, das die Gouvernante abzuwickeln hat, wenn sie vierzehn Tage dazu braucht.“

Am bezeichneten Tage um die Nachmittags Kaffeestunde trat die Erwartete, Fräulein Glitzermeyer, richtig bei uns ein; es war ein langes dünnes Frauenbild, mit einer dünnen spitzen Nase, rötlichem Haar und ein paar runden, wasserblauen Augen.

Der Doktor war nicht zu Hause, und Fräulein Glitzermeyer erzählte mir gleich in der ersten Stunde unseres Beisammenseins, daß sie diese Stelle nur angenommen habe, um die Naturschönheiten der Heide kennenzulernen und Skizzen davon aufzunehmen. „Ich habe bis jetzt nur in bergigen Gegenden gelebt,“ schloß sie, „und möchte nun auch einmal das Flachland Norddeutschlands mit seinen Bewohnern, dem biederen Stamm der Niedersachsen, kennen lernen. Die Geschichte der Niedersachsen habe ich eingehend studiert, aber, denken Sie sich, nie einen Niedersachsen von Angesicht geschaut. Sie können sich also denken, von welchem Interesse es für mich sein wird, dieses Volk, für das ich eine lebhafte Sympathie hege, denn sein Widerstand gegen alles neue und sein zähes Festhalten am Alten flößt mir Achtung ein, in seiner Eigenart durch eigene Anschauung kennen zu lernen.“

Ich entgegnete, daß sich ihr in diesem Hause hierzu die beste Gelegenheit böte, denn die Kinder, deren Unterricht und Erziehung sie übernommen habe, seien durch und durch echte Niedersachsen.

Beim Tee führte sie ausschließlich die Unterhaltung, welche sich jedoch in so hohen Bahnen bewegte, daß sie gänzlich über meinem Horizonte lag. Auch dem Doktor schien ihre Art der Unterhaltung nicht zu gefallen, denn als wir uns am Abend trennten, flüsterte er mir zu: „Haben Sie schon einmal Jemand gesehen, der die Gelehrsamkeit löffelweise verspeist hat?“

Am folgenden Tage sollte der Unterricht beginnen; doch schon nach einer Viertelstunde waren die Kinder wieder da und erzählten, Fräulein Glitzermeyer habe sie nach ihren Namen und ihrem Alter gefragt und beides in ein Buch geschrieben. Darauf habe sie ihnen ein langes Lineal gezeigt und gefragt: „Kennt ihr diesen Gegenstand?“ - „Ja, das ist ein Lineal.“ - „Richtig. Wozu wird dasselbe gebraucht?“ - „Um Linien damit zu ziehen.“ - „Ja, das ist ein gewöhnliches Lineal, dieses hier hat aber zugleich einen höheren Zweck, es wird euer Zuchtmeister sein. Wenn ihr Schläge verdient, wird dieses Lineal sie euch erteilen. Betrachtet dasselbe also mit Respekt und hütet euch, mich zu erzürnen. Für heute seid ihr entlassen; morgen ist Examen, bereitet euch darauf vor!“

Die Kinder fragten, wie sie dieses Vorbereiten machen sollten. Ich ließ sie, wie ich es bisher jeden Tag getan hatte, bei mir lesen, rechnen und schreiben und erzählte ihnen biblische Geschichten, das war unsere Vorbereitung.

Das Examen war am anderen Tage in einer halben Stunde abgemacht; und, während darauf die Gouvernante streng nach den Regeln der Methodik, wie sie selbst sagte, einen Stundenplan ausarbeitete, trieb ich mit den Kindern die gewohnten Übungen.

Am dritten Tage endlich begann der Unterricht. Im Laufe des Tages nahm Fräulein Glitzermeyer Gelegenheit, mir zu sagen, daß die Kinder in den Wochen bei mir augenscheinlich Fortschritte gemacht hätten, was um so mehr anzuerkennen, da ich keine Lehrerin von Fach sei, also weder Pädagogik, noch Methodik studiert habe. Ein Unterricht, wie sie ihn gäbe, sei allerdings etwas noch ganz anderes, denn der basiere auf wirklich wissenschaftlichen und gründlichen Studien. „Sie dürfen mir diese Bemerkung nicht übel nehmen,“ fügte sie hinzu, „denn wenn Sie mir sagen, daß Sie das Kochen, Waschen und Plätten besser verstehen, als ich, so bescheide ich mich gern und lasse Ihnen in den Künsten, welche zu ihrem Berufe gehören, den Vorrang.“

Hierauf wußte ich nichts zu antworten und schwieg daher.

Nach einigen Wochen erzählten die Kinder sehr erfreut, daß Fräulein Glitzermeyer sie sämtlich zeichnen wolle. „Ich porträtiere einigermaßen mit Glück,“ versicherte sie selbst bescheiden.

Mit Alfred wollte sie den Anfang machen, und am nächsten Sonntag sollte er ihr sitzen. Sein schlichtes, ziemlich langes, glatt anliegendes Haar genügte ihr indes zu diesem Zwecke nicht. Am Sonnabend Abend wickelte sie ihm daher den ganzen Kopf voll Papilloten. In der Nacht schlief der arme Junge sehr unruhig und stöhnte laut im Schlaf; die vielen Papilloten drückten ihn, und er klagte am anderen Morgen über Kopfweh. Fräulein Glitzermeyer aber versicherte, das werde sich bald geben und machte sich daran, ihr Opfer „künstlerisch zu frisieren“, d.h. sie machte ihm einen Scheitel in der Mitte des Kopfes, kämmte das kraus gewordenen Haar zu beiden Seiten in die Höhe und ließ es wirr herniederfallen. Das sähe genial aus, sagte sie. Sie zeichnete eifrig den ganzen Morgen, und ihr kleines Opfer musste den ganzen Sonntag Morgen stocksteif vor ihr auf dem Stuhle sitzen. Daß er da nicht sein bestes Gesicht gemacht, ist begreiflich. Als Fräulein Glitzermeyer am Nachmittage zum Kaffee herunterkam, brachte sie die fertige Zeichnung mit und zeigte sie mir. Ich zog es in diesem Falle vor, mein Urteil nicht abzugeben und sagte daher, was die Ähnlichkeit beträfe, seien Kinder die besten Kunstrichter; sie möge also das Bild dem kleinen dreijährigen Otto Pillow, welcher sich im Zimmer befand, vorhalten. Sie rief den Kleinen, zeigte ihm die Zeichnung und sagte: „Nun, mein Söhnchen, sag` mal, wer soll dies sein?“

Der Kleine sah das Bild an und sagte unbedenklich: „Wau, wau!“

Wir alle mussten lachen, denn wirklich hatte das kleine, runde, etwas mürrisch aussehende Gesicht, umgeben von einem stehenden Kranze wirrer Haare, Ähnlichkeit mit einem Affenpinscher. Fräulein Glitzermeyer aber war durch den Ausspruch des selbst gewählten Kunstrichters und unser Lachen so beleidigt, daß sie ohne ein Wort zu sagen das Bild in ihre Mappe legte und auf ihr Zimmer ging. Die übrigen Kinder und ich – denn auch mir hatte sie Hoffnung gemacht, von ihr gezeichnet zu werden – blieben von ihrer Kunst unbelästigt.


Einige Wochen vor Weihnacht gab Fräulein Glitzermeyer uns eine besondere Probe ihrer Pädagogik. Schon einige Mal hatte sie gegen mich geäußert, daß Adolfs Charakter in seiner niedersächsischen Zähigkeit ihr ein Gegenstand interessanten Studiums sei. Nicht selten war mit diesem Studium ein Kampf verbunden, aus welchem – Dank dem höheren Zwecken gewidmeten Lineal – Fräulein Glitzermeyer bis jetzt noch immer als Siegerin hervorgegangen war. Eines Tages schien dieser Kampf von beiden Seiten mit besonderer Hartnäckigkeit geführt zu werden, wie ich aus dem heftigen Gepolter und Getrappel in der Schulstube schloß. Plötzlich ward die Tür der Schulstube aufgerissen und es stürzte etwas mit großem Lärm die Treppe herunter. Ich eilte auf den Vorplatz. Das Bild, welches sich hier meinen Blicken bot, war empörend, aber zugleich so komisch, daß ich Mühe hatte nicht zu lachen; es erinnerte an Freiligraths Löwenritt. Adolf war auf Fräulein Glitzermeyers Rücken gesprungen und behauptete sich hier durch Umklammerung ihres Halses mit beiden Armen. Vergebens suchte Fräulein Glitzermeyer ihre Bürde abzuschütteln, vergebens bemühte sie sich, mit dem in ihrer Rechten befindlichen Zuchtmeister ihrem Peiniger wirksame Streiche zu versetzten. Ihr Gesicht war vor Zorn und Anstrengung braunrot geworden. Rasch trat ich hinzu und befreite sie mit einem kräftigen Griff von ihrem Würger, welcher im Bewußtsein seiner Schuld eiligst das Weite suchte. Ich nahm die Erschöpfte mit in die Wohnstube, damit sie sich erst etwas erhole, ehe sie sich den Kindern wieder zeige. Hier erzählte sie mir den Hergang des abenteuerlichen Aufzugs: „Adolf war, wie gewöhnlich, ungehorsam und hartnäckig, so daß ich zum Lineal greifen musste. Um den verdienten Schlägen zu entgehen, flüchtete er sich von einem Winkel des Zimmers in den anderen; ich natürlich hinter ihm her. Plötzlich einen günstigen Augenblick ersehend, schwang er sich mit einer kühnen Wendung auf meinen Rücken. Das Übrige wissen Sie. Wäre die Sache nicht mir selbst passiert,“ setzte sie, schon wieder zu philosophischen Raisonnements aufgelegt, hinzu, „so würde mich der ganze Vorgang sehr interessiert haben, denn er beweist aufs neue, daß die Not die eigentliche Erzieherin des Menschengeschlechts ist; denn erst als Adolf keinen andern Ausweg mehr offen sah, entschloß er sich zu dem kühnen Sprung, der ihm so über alle Erwartungen gelang.“

„Ich würde mich an Ihrer Stelle aber doch hüten, diese Erziehungsmethode öfter in Anwendung zu bringen,“ war meine Meinung in der Sache.


Die Teestunde am Abend war die Zeit, wo Fräulein Glitzermeyer uns die glänzendsten Beweise ihrer Gelehrsamkeit zu geben pflegte. Sie besaß eine große Redefertigkeit und wußte das Gespräch stets dahin zu leiten, wohin sie es haben wollte. In der Regel behandelte sie am einem Abend nur einen Gegenstand, und es kam mir zuweilen vor, als habe sie sich für diese Unterhaltung speziell vorbereitet.

Eines Abends kam die Mathematik an die Reihe. Hierin schien sie sich ganz besonders zu Hause zu fühlen. Sie erzählte uns, daß die Mathematik von Kindheit an ihr Lieblingsstudium gewesen sei und daß sie in derselben immer gleichen Schritt mit ihren Brüdern habe halten können. Sie sprach vom pythagoreischen Lehrsatz, den sie schon als vierzehnjähriges Mädchen habe beweisen können. Sie erklärte den alten griechischen Philosophen und Mathematiker Pappus für ihren Liebling und schien dessen Schriften genau zu kennen.

Der Doktor hörte alle diese Prahlereien schweigend mit großer Geduld an, zuweilen spielte ein ironisches Lächeln um seinen Mund, und nur als sie auch des binomischen Lehrsatzes als einer ihr durchaus bekannten Sache erwähnte, sagte er leise vor sich hin: „Alle Bomben!“

Nachdem Fräulein Glitzermeyer ihr mathematisches licht genügend hatte leuchten lassen, sagte sie: „Ich gedenke den Unterricht in der Mathematik schon bald mit Louise und Pauline zu beginnen, denn nichts schärft und klärt den Verstand so wie diese Wissenschaft. Bis jetzt haben die Kinder leider sehr wenig Lust zum Rechnen; doch ich hoffe, die wird durch meine Unterrichtsmethode schon geweckt werden. Man muss es nur verstehen, eine Sachen den Kindern interessant zu machen, dann kommen Lust und Eifer von selbst. Die Arithmetik ist so sehr meine Liebhaberei, daß selten ein Tag vergeht, an welchem ich nicht mindestens eine schwierige Aufgabe zu lösen suche. Zuweilen,“ fuhr sie lächelnd fort, „steige ich selbst bis zu den vier Spezies herab; gestern z.B. habe ich zu meinem Vergnügen zwei zwanzigstellige Zahlen mit einander multipliziert.“

Hier brach der Doktor sein Schweigen, indem er sagte: „Da würde für mich das Vergnügen aufhören, das ist ja eine Heidenarbeit. Solche Multiplikationen lassen sich bekanntlich sehr einfach mit Hilfe der Logarithmen ausführen.“

„Womit?“ fragte Fräulein Glitzermeyer erstaunt.

„Mit Hilfe der Logarithmen.“

„Was ist denn das?“

„Kennen Sie keine Logarithmen?“

„Nein, davon habe ich nie gehört, bitte, erklären Sie mir dieselben; es ist mir stets eine Freude, meine Kenntnisse zu bereichern.“

Der Doktor sagte ernst: „Jemand, der den binomischen Lehrsatz verstehen will und noch nie von Logarithmen gehört hat, scheint mir ein Unding zu sein.“ Er wünschte uns eine gesegnete Mahlzeit und stand auf. Fräulein Glitzermeyer sah ihn verblüfft an; ich aber, obgleich mir die genannten Lehrsätze samt den Logarithmen unbekannt waren, begriff doch so viel, daß Fräulein Glitzermeyer in ihren Prahlereien sehr weit gegangen und sich in den Augen des Doktors gründlich blamiert haben müsse.


Frau Lisette fuhr in ihren Bestrebungen, den Kunstsinn der Bewohner B`s zu heben, unermüdet fort. Sie fand bei Fräulein Glitzermeyer ein bereitwilliges Entgegenkommen und ein verständnisvolles Eingehen auf ihre Pläne; denn die letztere war nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in allen schönen Künsten wohlbewandert. Beide verstanden sich gut und wurden bald Freundinnen. Sie arbeiteten Hand in Hand für das geistige Wohl B.`s.

Einmal in der Woche fand im Pillow´schen Hause ein sogenannter künstlerischer Abend statt, an welchem musiziert, gesungen und über künstlerische Fragen aller Art debattiert wurde, Mitglieder des Vereins waren nur Frau Lisette und Fräulein Glitzermeyer. Zwar hatte die erstere die Freundlichkeit gehabt, mich aufzufordern, an diesen künstlerischen Zusammenkünften Teil zu nehmen, was indes von mir im Gefühl meiner Unwürdigkeit abgelehnt worden war.

In den Bestrebungen zur Förderung des Kunstsinns in B. gerieten die beiden Freundinnen auf den Einfall, ein Liebhabertheater zu errichten. Dieser Gedanke wurde von beiden mit Begeisterung erfaßt und sollte sogleich ins Werk gesetzt werden. Eine Menge Lustspiele wurden aus der Leihbibliothek geholt. Es wurde gewählt und wieder verworfen, endlich wurden zwei als ausführbar bezeichnet.

Nun ging´s ans Rollenverteilen und Rollenabschreiben. Hauptakteure waren Frau Lisette, Fräulein Glitzermeyer und der Gerichtsauditor Schamelius. Fräulein Glitzermeyer hatte in ihrem Kunsteifer in beiden Stücken mehrere Rollen übernommen; da das Auswendiglernen ihr aber schwer ward, so erforderte dasselbe viel Zeit. Sie saß halbe Nächte lang auf und lernte, war dafür aber anderen Tags müde und abgespannt, und es kam mir vor, als ob die Kinder durchaus nicht die von ihr in Aussicht gestellten „rapiden“ Fortschritte machten. Proben und Generalproben wurden gehalten, und Ende Februar kamen die Stücke zur Aufführung.

Die Bewohner B.s waren dankbar für das Gebotene, sie klatschten Beifall, riefen Bravo und bewarfen die Spielenden mit Bouquets und Kränzen. Fräulein Glitzermeyer brachte eine ganzen Arm voll solcher Siegestrophäen mit nach Hause. Sie war von ihrem ersten Erfolge so berauscht, daß sie am liebsten gleich noch eine Vorstellung gegeben haben würde. Die beginnende Fastenzeit aber gebot glücklicherweise Stille, und so musste sie fürs Erste den Gedanken an Lorbeerpflücken auf diesem Felde aufgeben. Untätig war sie indes nicht. Sie las, sprach und schrieb sogar über das Drama.

In einer vertraulichen Stunde teilte sie mir ihren Plan, noch einmal als Dramadichterin aufzutreten, mit. „Ich hoffe,“ sagte sie, „auf diesem Gebiete etwas ganz Neues zu schaffen. Das Drama, wie wir es jetzt besitzen, genügt mir nicht. Es wird in demselben zuviel durch Worte geredet, und das ermüdet den Zuschauer, denn es läßt seiner Phantasie zu wenig Spielraum. Es müssen mehr die Taten reden und zwar so, daß zwischen den einzelnen Handlungen Lücken bleiben, welche die Phantasie des Zuschauers sich nach Gefallen selbst ausfüllen kann. Kommt meine Idee im Drama zur Ausführung, dann wird für die Schauspielkunst eine ganz neue Ära anbrechen, und man wird mich als die Reformatorin der darstellenden Kunst bezeichnen müssen. Da Sie, wie sie selbst sagen, Literatur nicht studiert haben,“ fuhr sie mitleidig fort, „so wird es schwer fallen, Ihnen die ganze Großartigkeit meines Planes klar zu machen, denn um mich zu verstehen, müßten Sie wissen, daß das Drama, diese edelste Blüte der Dichtkunst, hervorgegangen ist aus einer Verschmelzung der Lyrik und Epik und daß - - -“

„Ich fürchte selbst,“ unterbrach ich sie, „daß Ihre Erklärungen Zeitverschwendung sind, denn ich begreife von Ihren Auseinandersetzugen nichts.“

Fräulein Glitzermeyer sann einen Augenblick nach, dann fuhr sie wohlwollend fort: „Ihre geistige Weiterbildung liegt mir am Herzen, Fräulein Jocundus, und da kommt mir ein Gedanke. Beispiele erläutern bekanntlich eine Sache; ich will daher ein Drama nach meiner Idee schreiben und hoffe, daß Sie mich dann, da es Ihnen an natürlichem Verstand eben nicht fehlt, schon besser verstehen werden.“

Ich erklärte, auf diese Morgenröte einer neuen Blütezeit der Schauspielkunst sehr gespannt zu sein.

Schon am folgenden Tage legte Fräulein Glitzermeyer mir den Entwurf zu einem Musterdrama, wie sie es nannte, vor.

„Haben Sie Zeit und Ruhe, das, was ich Ihnen vorlesen möchte, anzuhören?“ fragte sie.

Ich deutete auf einen Korb voller Strümpfe, welcher neben mir stand, und sagte: „Bis die gestopft sind, wird das Drama auch wohl zu Ende sein.“

Sie lächelte mitleidig und bemerkte: „Die Prosa ist doch gar nicht von Ihnen zu trennen.“ Dann eine ernste, feierliche Miene annehmend, begann sie: „Ich gebrauchte soeben den Ausdruck „vorlesen“; doch der ist hier nicht am richtigen Platze. Ich möchte Ihnen meinen Entwurf nicht vorlesen, sondern vielmehr vorführen; ich möchte die Handlung an Ihrem inneren Auge vorbeigleiten lassen und Sie selbst mit in dieselbe hineinziehen dadurch, daß Ihre Phantasie die Kunstpausen, d.h. die Pausen, welche die Kunst absichtlich läßt, ausfüllt. Beginnen wir also:

Entwurf zu einem Musterdrama.

Die Begegnung

Schauspiel in drei Aufzügen

Personen

Obergerichtsrat Sauerkohl
Kronanwalt Schweinebraten
Rosa und Lily, Töchter des Ersteren
Roderich, Sohn des Letzteren
Angelika, Nichte des Herrn Sauerkohl

Ort der Handlung: 1) auf der Landstraße; 2) im Wirtshause; 3) auf der Roßtrappe

Erster Aufzug

Erster Auftritt

Es ist dunkel auf der Bühne, doch erkennt man einen Fahrweg, der sich am Fuße eines Berges hinzieht. Tiefes Schweigen. Nach einer kleinen Weile hört man in der Ferne das Blasen eines Posthorns; es ist eine weiche, schmelzende Melodie. Jetzt hört man auch das Rollen eines Wagens, es kommt näher und näher. Ein geschlossener Postwagen fährt quer über die Bühne und verschwindet hinter der Kulisse. Der Vorhang fällt.

Zweiter Auftritt

Die Bühne zeigt die Straße eines Landstädtchens; im Vordergrunde ein Wirtshaus. Es ist Nacht; vor dem Wirtshause brennt eine Laterne. Tiefe Stille. Nach längerer Zeit ertönt wieder das Blasen eines Posthorns.

„Hier muss ich auf etwas aufmerksam machen,“ schaltete Fräulein Glitzermeyer ein. „Im ersten Auftritt hieß es: nach einer Weile, und im zweiten Auftritt heißt es: nach längerer Zeit ertönte das Posthorn. Beides sind Kunstpausen, welche der Zuhörer in seiner Phantasie ausfüllen soll. Im ersten Auftritt ist dieselbe kürzer als im zweiten, und darin liegt eine große Feinheit; denn eine einsame Landstraße bietet der Phantasie keinesfalls einen so weiten Spielraum als die Straße eines Städtchens mit einem Wirtshause und einer brennenden Laterne im Vordergrunde. Doch ich fahre fort:

Das Blasen kommt näher. Man erkennt dieselbe weiche schmelzende Melodie, welche schon im ersten Auftritt das Ohr des Zuhörers entzückt hat. Der Postwagen erscheint wieder auf der Bühne und hält vor dem Wirtshause still. Aus dem Hause tritt nun der Wirt, wohlbeleibt und mit einer Zipfelmütze auf dem Kopfe. Er öffnet unter vielen Bücklingen den Wagenschlag, und zwei Herren steigen aus. Sie treten ins Haus, gefolgt vom Wirt. Die Haustür schließt sich. Der Wagen fährt ab. Der Vorhang fällt.“

Fräulein Glitzermeyer hielt inne und sah mich an. Ich stopfte Strümpfe und sagte nichts.

„Warum sagen Sie denn nichts?“ fragte sie ungeduldig.

„Ich fülle die entstandene Kunstpause mit meinen Gedanken aus,“ erwiderte ich.

„Ach so!“ entgegnete sie, „Sie fangen also schon an, sich in meine Idee hineinzuleben; das freut mich, denn es beweist mir, das dieselbe nicht zu hoch, sondern gemeinverständlich und also ausführbar ist. Fahren wir also fort:“

Zweiter Aufzug

Erster Auftritt

Zimmer im Gasthause. Anfangs alles dunkel. Nach einer geraumen Weile (Sie verstehen, wieder eine Kunstpause) wird die Tür geöffnet, der Wirt tritt herein, ein Licht in der Hand, welches er auf den Tisch stellt. Ihm folgen die beiden Herren im Reiseanzug. Der Wirt erntfernt sich schweigend.

„Auch dieses Schweigen des Wirts,“ erläuterte Fräulein Glitzermeyer, „ist von großer Bedeutung für die Wirkung des Stücks. Hätte ich nämlich den Wirt sprechen lassen, so würde es doch nur etwas sehr Untergeordnetes haben sein können. Nach meiner Auffassung aber ist es für den Effekt des Ganzen durchaus notwendig, daß das erste Wort, welches überhaupt in einem Drama gesprochen wird, ein gewichtiges, sozusagen die Quintessenz des Ganzen sei, damit ein denkender Zuschauer aus diesem ersten Worte mit Hilfe seiner Phantasie sich selbst das ganze Stück zusammensetzten kann.“

Ich war sehr gespannt auf dies erste Wort. Fräulein Glitzermeyer fuhr fort:

Die beiden Herren entledigen sich ihrer Reiseröcke.

Der Obergerichtsrat Sauerkohl, indem er seinen Paletot an den Nagel hängt und sich dann vergnügt die Hände reibt:

„Also, so weit wären wir jetzt, mein lieber alter Freund!“

Kronanwalt Schweinebraten: „Ja, Freund meiner Jugend, so weit wären wir!“


Es klopfte an die Tür, und unsere Nachbarin, Frau Amtsrichter Rexius, trat ein. Unsere Lektüre ward unterbrochen, was Fräulein Glitzermeyer sehr leid zu sein schien, ich aber nicht weiter zu bedauern vermochte, denn ich hatte ja das erste gewichtige Wort, die Quintessenz des Ganzen, gehört und konnte nun mittelst Verdünnung derselben durch meine eigenen Gedanken mir das Ganze nach Gefallen selbst zusammenstellen. Zwar hat Fräulein Glitzermeyer mir in ihrem Kunstdrange das ganze Drama später noch vorgelesen und mich sogar einer Abschrift desselben gewürdigt. Ich denke aber, daß meine lieben Leserinnen an der gegebenen Probe genug haben und gleich mir nicht nach mehr verlangen.

Auf Fräulein Glitzermeyers Vorschlag zog Frau Lisette jetzt auch den Auditor Schamelius zu ihren Künstlerischen Abenden heran: „Er hat ein feines Verständnis für Poesie und Musik,“ bemerkte sie. Fräulein Glitzermeyer dagegen vertraute mir an, daß der Auditor sich aus der Musik, die ja nun einmal Frau Doktor Pillows Steckenpferd sei, gar nichts mache. „Ich bin der Magnet,“ setzte sie verschämt hinzu, „der ihn zu unseren Abenden heranzieht.“

So vergingen Frühling und Sommer. Fräulein Glitzermeyer schwärmte viel im Freien umher, um Skizzen nach der Natur aufzunehmen; zu Hause machte sie Gedichte; die Kinder lernten nicht viel.

Ende August erklärte sie mir, daß sie jetzt ganz bestimmt einen baldigen Heiratsantrag des Auditors entgegensähe.

Ich erwiderte ihr auch diesmal, was ich ihr schon früher warnend gesagt hatte: „Wenn Sie sich nur nicht täuschen! Der Auditor kann noch lange nicht ans Heiraten denken, und er scheint mir ein viel zu berechnender Kopf zu sein, um sich so aufs Ungewisse hin durch eine Verlobung zu binden. Daß er Ihnen ein wenig den Hof macht, glaube ich wohl; das ist die Art vieler junger Herren, bedeutet bei ihnen selbst aber weiter nichts als Zeitvertreib. Sie würden, wenn Sie gewollt hätten, seine Annäherung leicht haben verhindern können, denn die Herren besitzen in dieser Beziehung ungemein feine Fühlfäden.“

Fräulein Glitzermeyer sah mich ein wenig impertinent an und sagte: „Sie haben gut moralisieren, Ihnen wird sich wahrscheinlich niemals ein Herr genähert haben.“

Darin hatte sie recht; ich glaubte aber auch recht zu haben.

Es war Mitte September, da saß ich an einem Sonnabend Nachmittag auf Fräulein Glitzermeyers Stube, um ihr beim Flicken eines Kleides behilflich zu sein. Das Flicken und Stopfen lag nämlich so weit unter ihrer Sphäre, daß sie sich nur in den äußersten Notfällen damit befaßte und beides auch nur sehr mangelhaft auszuführen im Stande war.

Fräulein Glitzermeyers Stube war die freundlichste im ganzen Hause. Vom Fenster aus übersah man die ganze lange, mit Bäumen bepflanzte Hauptstraße des Fleckens. Sie hatte ihren Platz so gewählt, daß sie mit ihrem Blick die ganze Straße bestreichen konnte, und während ich bemüht war, ihr zu zeigen, wie ein Flicken kunstgerecht eingesetzt werde, schweiften ihre Blicke beständig zum Fenster hinaus. Am Morgen hatte sie mir im Vorbeigehen zugeflüstert: „Es ist mir, als stände ich dicht vor einer wichtigen Entscheidung.“ Jetzt schien sie sehr gelangweilt zu sein; sie gähnte häufig und rückte unruhig auf ihrem Stuhle hin und her. Plötzlich aber fuhr sie wie elektrisiert empor und rief:

„Der Augenblick naht, da kommt er!“

Ich blickte verwundert auf und fragte: „Wer kommt?“

„Oh, Sie kühle Seele, merken Sie es denn immer noch nicht, daß ich mitten in dem Drama meines Lebens stehe? Wer anders sollte kommen als er, der Auditor? Sehen Sie, da kommt er im schwarzen Frack, mit weißer Krawatte und weißen Handschuhen gerade auf unser Haus zu! Er kommt, um sich mit mir zu verloben! Jetzt sieht er herauf; er lächelt! Er grüßt! Er tritt ins Haus!“

Ich stand auf, um den Auditor zu empfangen, da der Doktor nicht zu Hause war. Fräulein Glitzermeyer vertrat mir den Weg. „Was wollen Sie?“ rief sie, „stören Sie nicht den schönsten Augenblick meines Lebens, lassen Sie mich mit ihm allein!“

Sie schob mich zurück und flog die Treppe hinunter. Ich setzte mich wieder und flickte weiter. Obgleich ich mir den feierlichen Anzug des Auditors nicht zu erklären vermochte, so war ich doch überzeugt, daß er nicht in der Absicht gekommen sei, sich mit Fräulein Glitzermeyer zu verloben; denn dies brauchte er nicht in so auffallender Weise zu tun, dazu hatte sie ihm bequemere Gelegenheit geboten.

Nach etwa zehn Minuten hörte ich die Haustür gehen, und gleich darauf stürzte Fräulein Glitzermeyer ins Zimmer. Zorn und Schmerz entstellten ihr Gesicht, sie warf sich auf den Stuhl und weinte krampfhaft.

Ich störte sie nicht, ich wußte alles, und flickte ruhig weiter. Nach einer Weile hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie den Empfindungen ihrer Seele durch Worte Ausdruck geben konnte, sie rief: „Der Elende, da geht er hin, unbekümmert um das, was er angerichtet! Den Garten meines Lebens hat er verwüstet, und mich selbst läßt er als geknickte Blume am Wege liegen!“

„Was wollte der Auditor?“ fragte ich.

Fräulein Glitzermeyer lachte wild auf und rief: „Was er wollte? Abschied wollte er nehmen. Er ist plötzlich nach H. versetzt worden und geht nun im ganzen Neste umher, um Abschiedsvisiten zu machen. Der Elende! Lächelnd reichte er mir die Hand, wünschte mir ferneres Wohlergehen und meinen Bestrebungen gute Erfolge.“

Sie lachte wieder. Plötzlich rief sie: „Ich halte es hier nicht aus, ich sehne mich nach einem befreundeten Herzen, das mich versteht, und an welchem ich meinen Schmerz ausweinen kann; ich eile zu meiner Freundin!“

Sie warf ein Tuch um und verließ das Zimmer um nach Frau Doktor Pillow zu eilen. Ich blieb, um die angefangene Flickarbeit zu vollenden. Nach kaum fünf Minuten war sie wieder da, verstörter fast als das erste Mal. Sie rief: „Auch diesen Hohn tut er mir noch an! Ich eile zu meiner Freundin, um an ihrer Brust mich auszuweinen; ich öffne die Tür ohne anzuklopfen, denn der Schmerz ist heilig und entbindet uns der leeren Formen! Was aber muss ich sehen? Da sitzt er wieder, der Elende, in weißer Krawatte und weißen Handschuhen und spricht lächelnd wahrscheinlich über Musik. Ein Blick genügt mir; ich schlage die Tür zu und stürze wie ein gehetztes Wild über die Straße hierher zurück. Oh, ich bin elend, namenlos elend!“

Wieder weinte und schluchzte sie zum Ersticken. Ich sagte: „Fräulein Glitzermeyer, Sie müssen sich aber zu fassen suchen; gleich werden die Kinder nach Hause kommen, und die dürfen Sie in diesem Zustande nicht sehen.“

Sie trocknete ihre Tränen und sagte: „Sie haben recht, die Welt darf den Schmerz eines bis zum Tode gekränkten Herzens nicht sehen; es muss still verbluten, der Anstand muss gewahrt werden. So ist es im Leben. Auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, ist es anders; da dürfte ich jetzt dem Triebe meines Herzens folgen und dies zertretene Dasein von mir werfen. Ich könnte ins Wasser oder meinetwegen auch ins Feuer springen, und das Publikum würde mir Beifall klatschen. Aber im Leben heißt es: Alles Unangenehme fein still abgemacht! Aber hier bleiben kann ich nicht, die Luft hier ist mir unerträglich, ich muss fort, morgen schon!“

Mit großen Schritten durchmaß sie das kleine Zimmer. Ich hatte unterdessen die Flickarbeit beendigt, stand auf, empfahl ihr ruhige Überlegung der Sache und ging hinunter.

Fräulein Glitzermeyer erschien nicht zum Abendessen; sie ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen. Am anderen Morgen erhielt der Doktor einen Brief von ihr, worin sie schrieb, daß sie Familienverhältnisse halber sogleich nach Hause reisen müsse und bat, sie schon jetzt frei zu geben, da sie sonst doch auf Weihnachten kündigen müsse.

Der Doktor reichte mir den Brief und sagte: „Ich fürchte, wir kommen durch ihr plötzliches Fortgehen der Kinder wegen in Verlegenheit.“

Ich erwiderte: „Lassen Sie sie ruhig reisen. Für den Unterricht der Kinder kann auch ohne Fräulein Glitzermeyer genügend gesorgt werden. Einige Stunden lassen Sie durch den jungen, tüchtigen Volksschullehrer hier am Orte geben, die übrigen übernehme ich. Charlotte hat sich in diesem Jahre so weit im Haushalte ausgebildet, daß sie unter meiner Oberleitung denselben sehr gut wird führen können.“

Der Doktor reichte mir die Hand und sagte: „Fräulein Jocundus, Sie sind ein vernünftiges Frauenzimmer, leider gibt es jetzt, unter der jüngeren Generation zumal, manche überspannte Köpfe.“


Fräulein Glitzermeyer packte noch selbigen Tages ihre Sachen und reiste am folgenden Tage ab. Ich backte zum Abend eine Korinthensemmel und kochte Schokolade, und wir waren alle sehr vergnügt.


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