Licht von Oben - Buchdeckel

Mein Dachstübchen

Die Tage, welche nun folgten, waren in ihrem äußeren Verlaufe dem beschriebenen ersten Tage sehr ähnlich. Eine Ausnahme machten sie Sonntage. Während meine Herrin und die alte Lotte sich nur äußerst selten veranlasst fühlten, das Gotteshaus zu betreten, durfte ich – dies hatte meine Mutter bei dem Engagement besonders befürwortet – alle vierzehn Tage zur Kirche gehen. Außerdem durfte ich die schönen Sonntagnachmittagstunden, vom eingenommenen Kaffee bis zur Teezeit, für mich auf meinem Dachkämmerchen verleben. In diesen Stunden bedurfte meine Herrin meiner nicht, denn dann hatte sie regelmäßig Besuch von einer alten Freundin, die leidenschaftlich Patience legte und sie mit ihren Kunststücken unterhielt.

Auf meinem Kämmerchen stand ein kleiner, eiserner Kanonenofen, der allerdings seinen Platz dort wohl nicht der Fürsorge meiner Herrin verdankte, den ich aber doch mit ihrer Erlaubnis im Winter Sonntagnachmittags heizen durfte. Freilich überreichte mir Lotte zu diesem Zwecke, selbst bei der empfindlichsten Kälte, nur ein sehr kleine Portion Kohlen; aber ich war ja an keinen Überfluss irgendeiner Art, auch nicht an Wärmeüberfluß, gewöhnt, und das am Nötigen Fehlende ersetzten Jugendkraft und ein alter wattierter Mantel.

Auf diese einsamen Sonntagnachmittagsstunden freute ich mich die ganze Woche. Sie sind mir nicht nur eine Erholung gewesen, sie sind mir auch zu einem großen Segen geworden; und das verdanke ich hauptsächlich dem Fenster oben in der schrägen Dachwand meiner Kammer. Das ging so zu:

Um das zum Schreiben und Lesen nötige Licht zu erhalten, schob ich den kleinen, dreibeinigen Tisch nebst Holzklotz unter das Dachfenster. Auf diese Weise erhielt ich Oberlicht, und wenn ich von meiner Beschäftigung emporblickte, schaute ich gerade in den Himmel hinein, von der Erde sah ich nichts. Dies gab mir zu denken, und ich brachte nach und nach noch andere Dinge, als nur Schreibmappe und Lesebuch in das Licht von Oben, ja, ich gewöhnte mich zuletzt, alles, was mir widerfuhr, im Oberlicht zu betrachten. Das hat mir viel Kummer erspart und mich manche Kränkung leicht verschmerzen lassen.

Allen jungen Mädchen, welche gleich mir in ihrem Schlafgemache das Licht nur durch ein kleines Dachfenster erhalten, wünsche ich von diesem den gleichen Segen!

Meine freien Sonntagnachmittagsstunden benutzte ich vor allem, um an meine Lieben in der Heimat zu schreiben. Da das Briefporto damals sehr hoch war, so musste ich mich beschränken, den Meinigen alle acht Wochen Nachricht von mir zu geben, und sie schrieben mir auch nicht öfter. Um nun aber keine Erlebnisse in meinen Briefen zu vergessen, so schrieb ich jeden Sonntagnachmittag die Ereignisse der Woche nieder. So entstand ein Tagebuch, das mir auch noch später viel Freude gemacht hat.

Meine Dachkammer erhielt dadurch einen Schmuck und außerdem für mich etwas Heimatlich-Warmes, daß ich kleine eingerahmte Schattenrisse, welche ich von meinen Eltern und Geschwistern besaß, um das Kruzifix herum an der Wand gruppierte. Diese Schattenrisse ersetzten damals die Stelle der jetzigen Fotografien. An und für sich waren dieselben weder hübsch noch ähnlich, aber man hatte damals nichts besseres, und ein liebendes Herz erinnerte sich bei dem Anblick dieser kleinen, schwarzen Gesichter doch der entfernten Personen, und das war bei den damaligen, bescheidenen Ansprüchen genug.

Wenn ich selbst Morgens und Abends vor meinem Bette kniete, um mein Gebet zu verrichten, und zum Kruzifix emporblickte, dann sah ich im Geiste alle meine Lieben mit mir zu einem Gottesdienste vereinigt. Und dies hat mich in einer besonders innigen Gemeinschaft mit meinen Geschwistern erhalten. Meine kleinen Schattenrisse sind mir daher in der Fremde – und ich habe ja mein ganzes Leben in der Fremde zubringen müssen – ein Schatz von unbezahlbarem Werte gewesen, und ich glaube nicht, daß ein einziges der vielen großen, elegant ausgestatteten Photographie-Alben, welche die jungen Damen jetziger Zeit auslegen, sich rühmen kann, halb so viel Freude bereitet und nur halb so viel Segen gespendet zu haben, als meine acht kleinen, unscheinbaren und noch dazu ganz unähnlichen Schattenrisse an der Kammerwand.

Mein Dachkämmerchen, so ärmlich es auch ausgestattet war, wurde doch von mir stets sauber und ordentlich gehalten. Hierzu war ich von Kindheit an angehalten worden. Mein Vater pflegte zu sagen: „Von der Schlafkammer eines jungen Mädchens kann man auf ihr Herz schließen. Liegt in der Kammer alles bunt und unordentlich durcheinander, dann pflegt auch im Herzen nicht die richtige Ordnung gehalten zu werden. Wer Unordnung und Schmutz um sich haben mag, dem ist beides auch innerlich nicht zuwider.“

Ferner lehrte mein Vater meine älteste Schwester und mich, unsere Schlafkammer als unser Separatheiligtum zu betrachten. Er sagte: „Eure Schlafkammer muss euer Heiligtum sein, denn dort seid ihr Priesterinnen; dort lest ihr für euch Gottes Wort, dort verkehrt ihr im Gebete mit eurem Herrn und Heilande. Gottes Wort und Gebet aber heiligen eine Stätte; hütet euch also, dieses Heiligtum je durch unreine, sündliche Gedanken zu entweihen! Legt ihr euch dort am Abend in Gottes Namen zur Ruhe nieder, dann könnt ihr sicher schlafen, denn dann bewachen euch die Engel Gottes und halten alles Schädliche, auch die sündlichen und erschrecklichen Träume von euch fern.“

Diese Lehre meines Vaters ist mir tief in das Herz gedrungen; und noch jetzt danke ich ihm für dieselbe, denn sie ist mir eine segensreiche Mitgabe fürs ganze Leben gewesen. So oft mir in meiner Schlafkammer ein Gedanke gekommen ist, der das Licht von Oben nicht vertrug, bin ich doppelt erschrocken gewesen und habe nicht geruht, bis dieser böse Geist ausgetrieben und die durch ihn verunreinigte Stätte durch Tränen und Gebet wieder geheiligt war.

Ich wollte, ich könnte dies teure Vermächtnis meines Vaters allen jungen Mädchen in das Herz schreiben!

Meine alte Herrin hat mich, zumal in den ersten Jahren, oft hart und unbarmherzig behandelt; aber die vielen Sonntagnachmittagsstunden, welche sie mir gewährte, haben alle Härte und Unfreundlichkeit wieder gut gemacht, denn der Segen, den diese Stunden über mich ausgegossen, überwiegt bei weitem alles Ungemach, das ich durch sie erduldet. Und das danke ich dem Lichte von Oben.


Voriges Kapitel Titelseite Nächstes Kapitel

Licht von Oben