Licht von Oben - Buchdeckel

Kleine Erlebnisse

Es gibt einige Menschen, die erleben nie etwas merkwürdiges, und andere, welche alle Tage etwas erleben. Ich bin so glücklich, zu den letzteren zu gehören, und deshalb hatte ich, obgleich mein Leben im Hause der alten Mamsell Mummel äußerlich sehr still und einförmig dahinfloss, doch jeden Sonntagnachmittag droben auf meinem Dachkämmerchen bei Oberlicht eine Menge Erlebnisse zu verzeichnen.

Ich glaube nur zwar, daß die meisten Menschen der Jetztzeit unter „Erlebnisse“ etwas ganz anderes verstehen als ich, und daher meine Erlebnisse damaliger Zeit, wie sie in meinem Tagebuche verzeichnet stehen, auch gar nicht als eigentliche Erlebnisse gelten lassen würden. Aber nach meinem Dafürhalten kommt es weniger darauf an, was man erlebt hat, als darauf, wie man dasselbe erlebt, ich meine, wie man das Erlebte auffasst und auf sich wirken lässt. Alles, was wir erleben, soll zu unserer Erziehung beitragen; und diesen Zweck können die kleinen Erlebnisse ebenso wohl erfüllen, als die so genannten großen.

Über manche meiner Jugenderlebnisse denke ich jetzt natürlich auch anders als damals, denn, wie ich schon bemerkt habe, war ich von Haus aus in keiner Weise verwöhnt, und unter der Anleitung meiner alten Herrin musste ich in der Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit die umfassendsten Studien machen, und so kam es, daß ich auch in dem Bereiche der Erlebnisse mit Geringem fürlieb nahm und manches sammelte und aufbewahrte, was die meisten Menschen wohl nicht einmal bemerkt haben würden.

Mein Tagebuch liegt vor mir, und so will ich in diesen Erinnerungsblättern einige Proben meiner kleinen Erlebnisse niederlegen, in der Voraussetzung, daß meine beiden lieben Nichten, für welche diese Blätter zunächst bestimmt sind, so viel von dem Geist ihrer alten Patentante haben, um die kleinen Begebenheiten, welche dieselbe in ihrer Jugend des Aufschreibens wert gehalten, nun ihrerseits auch des Lesens wert zu erachten.

Die Daten meines Tagebuches lasse ich hier weg, denn die sind ja unwesentlich:


Gestern Abend musste meine Herrin sehr müde sein. Wir leben hier ganz nach der Uhr; alle unsere Handlungen richten sich nach dem Glockenschlage. In meinem elterlichen Hause war die Uhr unsertwegen da, in diesem Hause aber sind, glaube ich, die Menschen der Uhr wegen da. In der Stube meiner Herrin hängt neben dem Sofa eine kunstreich geschnitzte Schwarzwälderuhr mit einem Kuckuck. Dieser Kuckuck und ich sind gute Freunde. Ich freue mich jedesmal, wenn er erscheint, seine Verbeugung macht und so vernehmlich die Stunde ruft; und er nickt mir dann jedesmal freundlich zu, wenigstens meine ich es; denn ich möchte so gern, daß doch jemand freundlich gegen mich wäre.

Wenn der Kuckuck die neunte Abendstunde gerufen hat, gehen wir zu Bett. Oft ist meine Herrin so müde, daß sie in der Sofaecke einschläft, aber vor neun Uhr geht sie nicht zu Bett. Zuweilen muss ich ihr binnen einer Viertelstunde dreimal sagen, wie viel Uhr es ist, und jedesmal wundert sie sich dann, daß es noch nicht später an der Zeit. Gestern Abend musste ihre Müdigkeit und Ungeduld einen hohen Grad erreicht haben, denn als es dreiviertel auf neun war, sagte sie zu mir: „Mamsell Nelly, reichen Sie mir die Elle, welche dort hinter dem Schranke hängt.“ Ich tat es, und sie schob von ihrer Sofaecke aus mittelst der Elle den Zeiger der Uhr auf neun. Der Kuckuck erschien und rief die Stunde, und Mamsell Mummel sagte selbstzufrieden: „So, jetzt können wir mit Anstand zu Bette gehen, kommen Sie, Mamsell Nelly!“

Heute Morgen fragte meine Herrin: „Geht die Uhr richtig?“ Ich erwiderte: „Ja!“, denn ich hatte dieselbe, ohne daß meine Herrin es gesehen, um eine Viertelstunde zurückgestellt. Da nickte sie mir freundlich zu und sagte: „Es ist gut!“


Endlich habe ich es erreicht, daß ich am Morgen von selbst aufwache! Gott sei Dank! Es war aber keine leichte Arbeit; meine Herrin hat manches zürnende Wort sprechen und ich habe manche Träne vergießen müssen, ehe ich es gelernt. Lotte wollte mich nicht mehr wecken; sie habe hierzu keine Zeit, sagte sie, ihre alten Beine hätten außerdem manchen sauern Tritt zu tun, und sie würde auch von niemand geweckt. Meine Herrin sagte, sie und Minörken wachten immer von selbst zur rechten Zeit auf, also müsste ich es auch können. Ich habe mir viel Mühe gegeben, und der liebe Gott hat meine Bitte erhört und mich ein Mittel finden lassen, wodurch es mir möglich wird, von selbst aufzuwachen. Ich denke mir nämlich kurz vor dem Einschlafen noch einmal deutlich die Stunde, um welche ich aufstehen muss. Es ist dies fünf Uhr. Ich stelle mir dabei recht lebhaft vor, wie die Zeiger um fünf Uhr zu einander stehen, mein inneres Auge sieht meinen Freund, den Kuckuck, wie er seine Verbeugungen macht, und mein inneres Ohr hört fünfmal seinen vernehmlichen Ruf. So schlafe ich ein, und es ist mir diese ganze Woche gelungen, präzise fünf Uhr aufzuwachen. Um halb sechs muss ich im Schlafgemache meiner Herrin erscheinen; ich habe also hinreichend Zeit, mich anzukleiden und mich und mein Tagewerk der Gnade meines Heilandes zu befehlen.


Gestern hatte ich das Unglück, einen kleinen Teller zu zerbrechen. Meine Herrin war sehr böse, und ich sehr betrübt. Ich werde künftig sehr vorsichtig sein müssen. Ach, warum sind die Teller so zerbrechlich! Wenn bei uns zu Hause etwas zerbrochen wurde, dann machte mein Vater wohl ein ernstes Gesicht und sagte: „Kinder, ihr müsst vorsichtig sein, es wird mir schwer, ein neues Stück anzuschaffen.“ Damit war seinerseits die Sache abgetan; er schalt nicht und sprach auch nicht weiter darüber. Meine Herrin aber hat gestern den ganzen Tag von nichts anderem als dem zerbrochenen Teller gesprochen. Es war, als hätte ein großes Unglück dieses Haus betroffen. Meine Herrin war ganz aus ihrer gewohnten Seelenruhe herausgebracht, ich ging umher und weinte, Lotte war noch mürrischer als sonst, und Minörken noch viel bissiger. Ach, es war ein unglücklicher Tag! Heute, da ich denselben hier auf meinem Dachstübchen bei Oberlicht betrachte, erscheint er mir freilich schon viel weniger traurig, und ich glaube einst, wenn ich erst im Himmel auf ihn zurückblicken darf, wird er mir gar nicht mehr traurig erscheinen. Ich will aber sehr, sehr vorsichtig werden, damit ich nie wieder etwas zerbreche.


Am Dienstag erhielt ich mein erstes vierteljährliches Gehalt. Meine Herrin legte sechs blanke Taler in meine Hand und sagte: „Es ist viel Geld. In meiner Jugend zahlte man kaum halb so hohen Lohn, aber die Welt wird immer unverschämter. Gehen Sie nur recht sparsam mit dem Gelde um und denken Sie daran, etwas davon für Ihre alten Tage zurück zu legen, denn Sie werden einmal alt werden, und wer in der Jugend nicht spart, der muss im Alter darben.“

Ich nahm die sechs Taler, dankte und eilte damit auf mein Dachkämmerchen, um mich zu freuen. Es ist sonderbar, beten und mich freuen kann ich so recht von Herzen nur hier oben. Hier bin ich oft ganz unbeschreiblich glücklich. Wenn ich auf meinem Dreifuß sitze, über mir ein Stückchen Himmel und vor mir an der Wand das Kruzifix und die Bilder meiner Lieben, dann sehe ich die Welt mit ganz anderen Augen an als unten; dann scheint mir meine Herrin viel freundlicher, Lotte nicht halb so mürrisch und selbst Minörken nicht halb so hässlich zu sein.

Ich legte das Geld auf den Tisch und überzählte es. Ha, es waren sechs schöne, große, blanke Taler! So viel Geld hatte ich noch nie auf einmal besessen. Wenn ich es doch alles behalten und meiner Mutter und meinen Geschwistern etwas dafür zu Weihnachten kaufen könnte! Doch das wird nicht gehen, denn mir stehen bedeutende Ausgaben bevor. Zwei Paar Stiefel habe ich mir besohlen und ein Paar neue dazu machen lassen müssen. Die täglichen weiten Spaziergänge mit Minörken kosten entsetzlich viele Stiefelsohlen! Und dann muss ich mir Wollgarn zu Winterstrümpfen kaufen. Da ich nur wenig Zeit habe, für mich zu arbeiten, so muss ich schon jetzt an den Winter denken und anfangen, mir wollene Strümpfe zu stricken. Auch zwei neue Schürzen, etwas Nähgarn und noch einige andere Kleinigkeiten muss ich mir kaufen. Ach, es gehört so viel zum Leben, wo werden nur meine Taler bleiben!


Ja, wo sind sie geblieben? Sie sind fort, alle fort! Heute, nachdem ich alles bezahlt, was ich schuldig war, bleibt mir nur noch ein Groschen, ein einziger kleiner, winziger Groschen! Ich legte denselben auf den Tisch, wo vor einigen Tagen noch meine stolzen sechs Taler gelegen, und hätte weinen mögen, so betrübt war ich. Da aber fiel durch mein Dachfensterchen ein Sonnenstrahl gerade auf meinen Groschen, und das brachte mich auf andere Gedanken. Ich dachte: „Es ist sehr traurig, daß meine sechs Taler fort sind; aber es ist doch ein großes Glück, daß deine Ausgaben nicht größer gewesen sind, als deine Einnahme, und daß du sogar noch etwas übrig hast.“ Da konnte ich nicht anders, als meine Hände falten, und Gott danken. Und weiter dachte ich: „Unser Gott, dem es ja einerlei ist, durch viel oder wenig zu helfen, der kann auch deinen Groschen also segnen, daß derselbe reicht, bis du wieder dein Gehalt bekommst.“ Und mir fiel ein, was einst mein Vater in der biblischen Geschichtsstunde gesagt, als er uns die Geschichte der Witwe von Zarpath1 erzählt: „Dasselbe Wunder, wie dort in Zarpath, tut der Herr auch noch jetzt alle Tage, wo Er offene Augen und ein gläubiges Herz findet.“ Ich faltete wieder meine Hände und bat Gott um beides. Dann wickelte ich meinen Groschen in ein Stück Papier und legte ihn in meinen Koffer. Und jetzt bin ich ganz getrost, der liebe Gott wird es schon machen!


Vor einigen Tagen wurde meine Herrin in eine Kaffeegesellschaft gebeten. Minörken und ich mussten sie begleiten; ob wir auch eingeladen waren, weiß ich nicht. Meine Herrin ging vorauf, Minörken an ihrer Seite, ich, den letzteren an der roten Leine haltend, hinter beiden.

Als wir uns dem Hause unserer Gastgeberin näherten, rief der kleine fünfjährige Sohn derselben, der, nach Gästen aussehend, in der offenen Tür stand, ins Haus hinein: „Mutter, sie kommen!“

„Wer?“ fragte diese.

„Tante Mummel und Onkel Minörken!“ war die Antwort des Kleinen.

Es war eine große Gesellschaft von beinahe lauter alten Damen. Es wurde viel Kaffee getrunken und sehr viel Kuchen gegessen.

Unsere Gastgeberin hielt mich, glaube ich, für recht ausgehungert, denn so viel ich auch dankte, so schenkte sie mir doch immer wieder ein, und auf meinen Teller packte sie einen förmlichen Berg von Kuchen mit den Worten: „Essen Sie, essen Sie, mein Kind, es ist Ihnen von Herzen gegönnt!“

Es schmeckte mir auch sehr gut, ich kann es nicht leugnen.

Auf dem Heimwege sagte meine Herrin zu mir: „In Gesellschaften brauchen Sie sich nicht genieren, dann essen Sie nur tüchtig; Kaffee und Kuchen ist doch einmal angeschafft, und der Wirtin ist es eine Freude, wenn es den Gästen schmeckt.“

Als Lotte uns die Haustür öffnete, erhielt sie die Weisung, für den Abend keinen Tee zu bereiten. „Wir sind alle hinreichend gesättigt bis morgen früh,“ fügte meine Herrin hinzu.


In der vergangenen Woche war Jahrmarkt, wir gingen hin; meine Herrin kaufte verschiedene Sachen. Am Abend drückte sie mir ein kleines Paket in die Hand, indem sie sagte: „Damit Sie doch auch wissen, daß Jahrmarkt gewesen ist.“ Ich eilte auf meine Dachkammer und öffnete mein Paket; es lagen drei Paar Stiefelbänder darin. Schon seit Wochen hatten mir meine Stiefelbänder große Sorge gemacht, denn dieselben wollten gar nicht mehr halten. Ich hatte sie schon unzählige Male zusammen genäht, aber sie wurden immer mürber und immer kürzer. Kaufen durfte ich mir keine, wenn ich nicht meinen letzten Groschen daran geben wollte. Jetzt lagen drei Paar neue Stiefelbänder vor mir auf dem Tisch! Woher war meiner Herrin der Gedanke gekommen, mir gerade Stiefelbänder zu schenken? Sie hatte doch gewiss nie nach meinen Füßen gesehen, und es gab ja soviel anderes, das sie mir hätte schenken können! Ich faltete meine Hände und blickte durch mein Dachfensterchen zum besternten Abendhimmel empor. Ja, ich wußte es wohl, woher meiner Herrin der Gedanke gekommen war, mir gerade Stiefelbänder zu schenken.

Ich zog die neuen Bänder in meine Stiefel, und obgleich es Zeit war, zu Bett zu gehen, so probierte ich doch erst die Stiefel an. Welch ein angenehmes Gefühl war es, wieder haltbare Bänder in den Stiefeln zu haben, wie sicher und zuversichtlich trat ich jetzt auf!


Am Mittwoch ist mir etwas sehr Merkwürdiges begegnet. Am Morgen war ich traurig und hatte Heimweh; ich sehnte mich so sehr nach Briefen von den Meinigen. Aber ich hatte erst vor vier Wochen einen Brief gehabt und konnte also noch keinen wieder erwarten. Der Gedanke, noch vier Wochen auf Nachricht aus der Heimat warten zu müssen, machte mich ganz elend; da fasste ich mir ein Herz und erinnerte den lieben Gott daran, daß Ihm ja alles möglich sei, daß Er mir also auch außer der Zeit würde einen Brief verschaffen können.

Am Nachmittage kam der Salzfuhrmann und brachte mir einen Brief; er war von meiner Mutter. Sie schrieb, es sei zwar noch nicht die Zeit zum Schreiben an mich, da sich aber eine so gute Gelegenheit böte, mir einen Brief zu senden, so wolle sie dieselbe benutzen.

In meiner Herzensfreude erzählte ich Lotte, daß ich heute Morgen den lieben Gott um einen Brief aus der Heimat gebeten, und daß Er schon heute Nachmittag meine Bitte erfüllt habe.

Lotte sagte: „Mamsell Nelly, Sie sind ein dummes Kind! Wenn Sie nachdenken könnten, so würden Sie wissen, daß es Unsinn ist, was Sie da schwatzen. Heute Morgen, als Sie um den Brief baten, ist derselbe schon geschrieben gewesen, Sie würden ihn also auch ohne Gebet erhalten haben.”

Ich stutzte und wußte Lotte nichts zu antworten. Jetzt aber weiß ich eine Antwort; ich habe sie heute Nachmittag in meiner Bibel gefunden. Sie steht Jes.65,24: „Und soll geschehen, ehe sie rufen, will Ich antworten; wenn sie noch reden, will Ich hören.”

Hier sagt Gott selbst ganz bestimmt, daß Er unsere Gebete im Voraus erhören will, und Er hat daher auch auf mein Gebet schon mehrere Tage vorher Sein gnädiges Amen meiner Mutter in die Seele gesprochen, und deshalb hat sie mir den Brief schreiben müssen.

Wenn ich hinuntergehe, werde ich Lotte die Bibelstelle vorlesen. Ich fange an, Mitleid mit Lotte zu haben! Ich glaube, sie fühlt sich gar nicht glücklich, und deshalb ist sie immer so verdrießlich. Die Arme! Sie hat aber auch kein Oberlicht auf ihrer Schlafkammer.


Meine Herrin ist gewiss sehr reich. Am Ersten eines Monats öffnet sie einen eisenbeschlagenen Kasten, welcher unter ihrem Bette steht, und nimmt eine Menge Papiere heraus, von denen sie kleine Stücke abschneidet, die sie „Zinscoupons” nennt. Diese siegelt sie ein, und ich muss sie dem Bankier bringen, der mir dafür einen ganzen Beutel voll Geld einhändigt. Wenn ich meiner Herrin diesen Beutel bringe, macht sie allemal ein sehr zufriedenes Gesicht und sagt: „Mamsell Nelly, Sie können für ein halbes Stündchen auf ihre Kammer gehen, ich habe zu tun.” dann schließt sie sich ein; ich aber eile höchst vergnügt auf meine Dachkammer. Dies halbe Stündchen der Freiheit ist mein Anteil an den Zinscoupons.

Einmal äußerte ich gegen meine Herrin meine Verwunderung darüber, daß sie für solche Papierstücke so viel Geld bekomme. Da fragte sie mich: „Haben Sie denn noch nie von Wertpapieren gehört?”

Ich antwortete: „Nein!”

Da sah sie mich mitleidig an und sagte: „Sie armes kleines Ding werden auch wohl nie solche Papiere besitzen!”

„Und mein himmlischer Vater wird mich doch ernähren,” setzte ich im Stillen hinzu.


Wir haben Gesellschaft gehabt, eine Kaffeegesellschaft. Vierundzwanzig Damen waren geladen, aber nur acht hatten die Einladung angenommen.

Ich erhielt Weisung, die Tassen der Gäste nur halb voll zu schenken. „Ich gönne ihnen den Kaffee von Herzen,” sagte meine Herrin, „aber es ist nicht fein, die Tassen so voll zu schenken. Die meinige können Sie übrigens wie gewöhnlich füllen, ich nehme es nicht so genau.”

Meine Herrin war sehr freundlich und gesprächig und wußte jeder Dame etwas Angenehmes zu sagen. Minörken schien auf diese Freundlichkeitsverschwendung an Andere eifersüchtig zu sein; denn obgleich er auf dem Schoße seiner Freundin lag und von dieser fortwährend gestreichelt und mit Zuckerbrot gefüttert wurde, so war er doch so bissig und unausstehlich, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.

Als wir mit dem Kaffeetrinken fertig waren, stellte Lotte Weingläser und eine Torte auf den Tisch. Meine Herrin schickte sich an, die letztere zu zerschneiden; plötzlich aber stieß sie einen durchdringenden Schrei aus und fiel in ihren Lehnstuhl zurück. Lotte sprang hinzu und rief: „Ach die Krämpfe, sie bekommt ihre Krämpfe! Mamsell Nelly, fassen Sie mit an, damit wir sie ins Bett schaffen!”

Ich war so erschrocken, daß ich zitterte. Mit Mühe schleppten wir meine Herrin ins Schlafzimmer und setzten sie auf einen kleinen Diwan. Hierauf schob Lotte mich zur Tür hinaus mit den Worten: „Seien Sie den Damen beim Ankleiden behilflich; es wird keine mehr bleiben wollen. Die Krämpfe dauern mindestens eine Stunde, und dann ist unsere Herrin zu schwach, um sich wieder zeigen zu können.”

Ich ging. Die Damen waren bereits aufgestanden und schienen große Eile zu haben, aus dem Hause zu kommen.

Als sie fort waren, erschien meine Herrin wieder und war anscheinend ganz wohl. Sie setzte sich an den Tisch, nahm Minörken auf den Schoß und sagte, indem sie sein hässliches Gesicht zärtlich küsste: „Schau, Herzchen, die Torte! Die soll uns auf diesen Schreck gut schmecken!”

Lotte nahm die Gläser wieder mit hinaus. Meine Herrin zerschnitt nun den Kuchen, und ich erhielt ein ungewöhnlich großes Stück mit den Worten: „Weil auch sie solchen Schrecken davon gehabt.”

Während des Kuchenessens erzählte meine Herrin Minörken, daß sie hiermit ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen auf lange hinaus genügt habe, und das sie jetzt erst vierundzwanzigmal eingeladen werden müsse, ehe sie nötig habe, wieder eine Kaffeegesellschaft zu geben.


Am vorigen Montage erzählte ich meiner Herrin, daß wir Kinder so gern auf dem Kirchhofe gespielt und an Sommerabenden oft noch spät im Dunkeln dort gesessen hätten. Sie fragte schaudernd: „Aber fürchten Sie sich denn nicht? Ich möchte nicht einmal am hellen Tage auf den Kirchhofe sein.”

Ich sagte ihr, daß außer meiner ältesten Schwester wir Kinder keine Gespensterfurcht gekannt hätten. Als diese sich einmal geweigert, am Abend allein ohne Licht in den Keller zu gehen, habe mein Vater gesagt, er wolle uns allen ein probates Mittel gegen die Furchtsamkeit nennen, dasselbe stehe im Psalm 27, Vers 1, und heiße: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte mir grauen?”

Meine Herrin schüttelte wegwerfend den Kopf; ich aber wagte noch hinzuzusetzen, daß es doch eigentlich schlimm sei, wenn wir nicht auf dem Kirchhofe sein möchten, da doch unser Leib dort eine lange Ruhe zu nehmen habe.

Da sah meine Herrin mich zornig an und sagte: „Mamsell Nelly, solche naseweise Bemerkungen verbitte ich mir!”

Als ich am Abend auf meiner Kammer war, las ich den 27. Psalm; ich las ihn noch einmal und zum dritten Mal; so wunderschön, so trostreich und erquickend, wie an dem heutigen Abend, war mir dieser Psalm noch nie erschienen. Ich musste an meine Herrin denken, sie hatte Geld, viel Geld, sie hatte ein großes Haus und ein bequemes Leben, aber Christentrost und Christenfreudigkeit hatte sie nicht. In ihren Augen war ich ein „armes, kleines Ding”; ich aber fühlte mich in diesem Augenblicke unbeschreiblich reich und glücklich, denn ich konnte mit König David sprechen: Er decket mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, Er verbirgt mich heimlich in seinem Gezelt und erhöht mich auf einen Felsen!” So konnte meine Herrin nicht sprechen. Ich fühlte inniges Mitleid mit ihr. An dem Abend schloss ich meine Herrin zum ersten Mal in mein Gebet ein und tue es jetzt jeden Abend.


Jetzt habe ich angefangen, auch für Lotte zu beten. Ich glaube, meine Herrin und Lotte beten beide nicht, und deshalb haben sie es ja doppelt nötig, daß ich es für sie tue.

Mein Vater sagte einmal: „Jeder Christ soll ein Priester sein. Es ist ein großes und seliges Amt, dieses Priesteramt; und je mehr wir es üben, desto lieber wird es uns. Als Priester haben wir das Recht und die Pflicht, vor unseren Gott hinzutreten und für Andere, ja, für die ganze Welt zu beten und zu bitten. Dieses Priesteramt verleiht auch dem ärmsten Christen, der es übt, eine größere Hoheit, Würde und Macht, als irgend ein Rang oder Stand dieser Welt zu geben vermag.” Mein Vater erinnerte uns dann noch an Abraham, der durch sein Gebet Sodom vom Untergange würde gerettet haben, wenn nur zehn Gerechte in der Stadt zu finden gewesen.

Von dieser Hoheit und Würde, welche die Fürbitte uns verleiht, fühle ich schon etwas in mir, seitdem ich angefangen habe, für meine Herrin und die alte Lotte zu beten.

Ich meine auch, daß beide seitdem viel freundlicher gegen mich sind; doch das bilde ich mir gewiss nur ein.

Nein, ich bilde es mir nicht ein! Lotte ist jetzt wirklich freundlicher gegen mich.

Gestern Nachmittag war ich von meiner Herrin nach dem eine Stunde von hier entfernten Dorfe N. geschickt worden, um Eier zu holen. Ich hatte schwer zu tragen, und als ich gegen sechs Uhr heimkehrte, war ich sehr ermüdet. Als Lotte mir die Haustür öffnete, sagte sie: „Kommen Sie in die Küche, Mamsell Nelly, ich habe ein Schlückchen Kaffee für sie warm gestellt; trinken sie den, ehe sie zu unserer Herrin gehen, es wird Ihnen gut tun.” Dankbar nahm ich dies Anerbieten an. Während ich mich erschöpft auf eine Bank am Herde niederließ, nahm Lotte ihre kleine irdene Kaffeekanne aus der Asche, in welcher sie dieselbe warm gestellt hatte, und schenkte mir ein. Es war allerdings nur sehr wenig, kaum eine halbe Tasse voll, und der Kaffee war außerdem ganz trübe und voll Bodensatz; aber es war doch freundlich von Lotte, daß sie an mich gedacht hatte, und deshalb schmeckte mir der trübe halbwarme Kaffee ohne Milch doch sehr gut und erquickte mich wirklich.

Als Lotte in die leere Taste blickte und den Kaffeesatz darin gewahrte, sagte sie: „Es tut mir leid, daß Sie gerade das Letzte aus der Kanne bekommen haben, das Letzte ist immer ein wenig dick, aber,” setzte sie begütigend hinzu, „Sie wissen ja, das Dicke hat das meiste Geld gekostet.” Da lachte ich, und Lotte lachte auch. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich Lotte habe lachen sehen.


Jetzt habe ich auch einen Spiegel auf meiner Kammer, und den verdanke ich Minörken. Die Sache verhält sich so:

Am Dienstag erhielt meine Herrin Besuch von einer alten Dame, welche ihren Kater mitbrachte. Minörken schien durch den Besuch wenig erfreut zu sein; er knurrte und zeigte dem Kater die Zähne, der seinerseits die Haare sträubte und gewaltig prußte. Die alten Damen redeten ihren Lieblingen begütigend zu, und so vertrugen sich de beiden leidlich, bis meine Herrin auf den Einfall kam, dem Kater etwas Milch mit Zwieback vorsetzten zu lassen. Dieser Ausdruck ihrer Gastfreundschaft empörte Minörken bis in das Innerste seiner Mopsseele; wütend fuhr er auf den Kater, der sich anschickte, die ihm zugedachte Mahlzeit zu verzehren, los und biss ihn. Alle Ermahnungen und Drohungen der alten Damen vermochten jetzt nichts mehr auszurichten; es entspann sich ein verzweifelter Kampf, in welchem Minörken im Gefühle seines Hausrechts schließlich den Sieg davontrug. Der Kater ergriff die Flucht, hatte aber so sehr den Kopf verloren, daß er, anstatt sich auf den Schoß seiner Herrin zu retten, auf die Kommode sprang und hier neues Unheil anrichtete, indem er eine auf der Kommode stehende große Kuppellampe umriss. Dieselbe fiel gegen den Spiegel und zertrümmerte diesen; klirrend polterten Lampenkuppel und Spiegelscherben auf die Erde.

Meine Herrin stieß einen so durchdringenden Schrei aus, daß ich nicht anders meinte, als sie bekäme wieder einen ihrer Krämpfe. Erschrocken stürzte ich in die Küche und rief Lotte zur Hilfe. Diese aber sagte gleichmütig: „Mamsell Nelly, Sie sind ja ganz außer sich, erholen sie sich erst etwas, dann gehen wir zusammen hinein.”

Nachdem ich etwas Wasser getrunken, ging Lotte mit mir in die Stube. Hier hatte sich die Szene gänzlich verändert. Die fremde Dame und der Unruhestifter waren verschwunden, und unsere Herrin hatte Minörken auf dem Schoß, dem sie unter Liebkosungen das Blut aus dem noch vor Aufregung zuckendem Gesicht wischte.

Lotte beklagte laut jammernd den schönen Spiegel und die Lampe. Meine Herrin aber entgegnete ruhig: „Der Schaden ist nicht so groß, wie er aussieht; der Spiegel hatte mehrere hässliche Flecke, und die Lampenkuppel war wie Du weißt, schon an mehreren Stellen gekittet. Außerdem hat meine Freundin versprochen, den Schaden, den ihr Kater angerichtet, zu ersetzten. Und das soll sie auch, warum bringt sie das hässliche Tier mit?”

Minörken hatte sich mittlerweile auch beruhigt; er sprang von dem Schoß seiner Freundin herab und verschlang wie im Triumph die dem Kater zugedachte Mahlzeit.

Am anderen Tage kam der Glaser und setzte ein neues Glas in den Spiegelrahmen. Ich suchte mir zwischen den Scherben ein passendes Stück aus, der Glaser schnitt es zu einem kleinen Spiegel zurecht, den ich mit einem Papprahmen versah. Und jetzt hängt er auf meiner Kammer ein ganz allerliebster Spiegel; und den verdanke ich Minörken.


Mein Groschen hat gereicht, ich wußte es wohl! Gestern war Michaelis2, und meine Herrin zählte mir wieder sechs blanke Taler in die Hand. Sie sagte wieder: „Es ist viel Geld!“ setzte aber hinzu: „Ich gebe es indessen gern, denn sie sind fleißig und aufmerksam. Fahren Sie also fort!“

Es war mir eine große Freude, dies aus dem Munde meiner Herrin zu hören, denn sie ist auch mit Lob sehr sparsam.

Ich eilte mit dem Gelde auf meine Kammer und legte es auf den Tisch. Dann holte ich aus meinem Koffer den Groschen und legte ihn neben die sechs Taler. Er sollte die neuen Ankömmlinge begrüßen, was er in stiller, aber für mich doch sehr verständlichen Weise tat. Auch er ist ganz blank geworden, so oft habe ich ihn in diesem Vierteljahr aus- und eingewickelt und besehen. Dieser Groschen enthält ein Stückchen Lebensgeschichte, deshalb werde ich ihn auch nie ausgeben. Aber besehen werde ich ihn auch künftig oft, denn er hat mir viel zu erzählen, und das soll er auch! Er soll mir erzählen von meines lieben Gottes Güte und Barmherzigkeit; wie derselbe ein armes, verlassenes Menschenkind ein ganzes Vierteljahr lang ohne Geld erhalten kann also, daß es ihm an nichts gebricht, nicht einmal an Stiefelbändern.


1)  1.Könige 17,8-16

2)  29.September


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