Licht von Oben - Buchdeckel

Mir erblüht ein stilles Glück, und was sich weiter begibt

Mein Verkehr mit meiner mütterlichen Freundin nahm in der beschriebenen Weise seinen Fortgang; ich sprach täglich im stillen Häuschen vor, und die wenigen Augenblicke, welche ich dort verbrachte, zählten zu den Lichtpunkten meines an Abwechslung nicht reichen Lebens. An den Sonntagen, an welchen ich zur Kirche gehen durfte, sahen wir uns auch dort, denn die versäumte an keinem Sonntage den Gottesdienst, und da sie einen eigenen Kirchenstuhl besaß, so nahm sie mich in demselben auf. Zuweilen – aber dies war nur selten der Fall – erlaubte mir meine Herrin auch, am Sonntag-Nachmittag, nachdem ich den Kaffee bereitet, auf ein Stündchen zu meiner Freundin zu gehen. Dies waren ganz besondere Festtage für mich, und ich habe dieselben alle in meinem Tagebuche besonders bezeichnet.

So kam der November heran. Mamsell Mummel hielt bei Minörken`s Körperbeschaffenheit einen täglichen Spaziergang für denselben unerlässlich. Wir durften daher kein Wetter scheuen, Minörken bekam, wenn es kalt war, einen sehr sinnreich verfertigten Überzug – meine Herrin nannte ihn Paletot – von rotem Flanell, der ihn wohl warm halten mochte, in welchem er aber noch unförmlicher aussah, und der ihm das Gehen noch beschwerlicher machte, als es ohnehin schon der Fall war.

Sobald wir in die Nähe des stillen Häuschens kamen, fühlte ich an der Leine, welche Anstrengungen Minörken machte, um möglichst rasch die Gartenpforte zu erreichen. Gewöhnlich wurden wir schon vor dem Hause von Angelika mit offenen Armen empfangen; und es war rührend anzusehen, welche Freude Minörken an den Tag legte, sobald er seine kleine Freundin erblickte.

Eines Tages kam uns Angelika ganz besonders fröhlich entgegen gesprungen; sie rief : „Mein Papa ist da! Gestern Abend ist er gekommen. Er hat mir eine Schildkröte und einen Papagei mitgebracht. Der Papagei kann sprechen, und die Schildkröte ist beinahe so dick wie Minörken.“

Triumphierend führte sie uns in das Haus. Meine mütterliche Freundin empfing mich mit freudestrahlendem Angesicht und stellte mir nicht ohne einen Anflug von Stolz ihren Neffen vor.

Der Kapitän Mühlenbrink sah seiner Tante ähnlich. Er hatte denselben Schnitt des Gesichts, dasselbe volle kastanienbraune haar, das auch sie einst gehabt, und lebhafte dunkle Augen. Seine Erscheinung entsprach übrigens sehr wenig dem Bilde, das ich mir von einem Seemanne entworfen hatte. Er war, obgleich groß und kräftig gebaut, doch sehr gewandt und hatte ein feines Benehmen.

Er schien die Verlegenheit, die sich meiner ihm gegenüber bemächtigt hatte, zu bemerken und wußte dieselbe auf eine einfache und natürliche Weise zu beseitigen, indem er mir einige der mitgebrachten Merkwürdigkeiten zeigte und erklärte. Unter diesen Merkwürdigkeiten nahm der Papagei, welcher in einem hübschen Bauer schon seinen Platz vor dem zweiten Fenster gefunden hatte, die erste Stelle ein.

Der Kapitän trat an das Bauer und fragte: „Wer bist du?“ worauf der Vogel sehr vernehmlich antwortete: „Papagei aus Afrika.“ Der Kapitän fuhr fort: „Jetzt musst du aber auch zeigen, was du heute Morgen gelernt hast. Wie heißt der Mops?“ „Mih – nöhr – ken!“ war die Antwort des Vogels.

Als Minörken sich also von einer unbekannten Stimme rufen hörte, wandte er sich um und spitzte die kleinen abgeschnittenen Ohren. Der Vogel wiederholte mit lauter Stimme seinen Ruf: „Mih – nöhr – ken!“ Minörken wurde unruhig und begann im Zimmer umher zu suchen. Der Papagei fuhr fort, sein „Mih – nöhr – ken, Mih – nöhr – ken!“ zu rufen, was den Betreffenden bald in hellen Zorn versetzte: er begann aus Leibeskräften zu bellen und zu heulen. Ich wußte uns Allen nicht anders zu helfen, als daß ich den Erzürnten auf meinen Arm nahm und eiligst das Weite suchte.

Angelika begleitete uns. Unterwegs erzählte sie mir, daß ihr Papa den ganzen Winter bei Ihnen bleiben werde. Diese Aussicht erfreute mich wenig, denn ich fürchtete, die Gegenwart des Kapitäns möchten mir die täglichen Besuche bei meiner lieben mütterlichen Freundin noch mehr kürzen oder am Ende gar rauben. Als ob sie meine Gedanken erriet, fuhr die kleine Angelika fort: „Papa wird aber nicht immer bei uns in der Stube sein, Großtante läßt ein besonderes Zimmer für ihn in Ordnung bringen. Papa will diesen Winter fleißig studieren, er hat eine ganze Kiste voll Bücher mitgebracht.“

Diese Zusatz beruhigte mich wesentlich. Ich hatte aber in diesem Augenblick eine Entdeckung gemacht, nämlich die, daß ich auf die Liebe meiner mütterlichen Freundin eifersüchtig war, und zwar so sehr, daß ich gewünscht, ihr Neffe möchte nicht gekommen sein. Dieser Einblick in die Selbstsucht meines Herzens war kein erfreulicher; und als ich diesen selbstsüchtigen Wunsch am Abend auf meinem Dachkämmerchen noch einmal bei Oberlicht betrachtete, da erschien er mir noch viel abscheulicher. Gott hatte mir in meiner Einsamkeit dies gesegnete Haus geöffnet und mir in Mamsell Mühlenbrink´s mütterlichen Zuneigung einen Ersatz für den Verlust meiner Mutter geschenkt; und ich mißgönnte dieser Frau, die bemüht war, mein ödes Leben täglich mit kleinen Blumen der Freude zu schmücken, die fast einzige irdische Freude, die es noch für sie gab: die Gegenwart ihres Neffen! Ich beugte mich in Scham und Reue vor meinem Gott und betete mit König David: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!“1

Am anderen Tage, als ich Mamsell Mühlenbrink allein traf, bekannte ich ihr meinen selbstsüchtigen Wunsch und bat um ihre Verzeihung. Sie schloß mich in ihre Arme, küßte mich und sagte: „Liebe Cornelia, aus unserem natürlichen Herzen kommen nichts als arge Gedanken; glücklich derjenige, dem die Augen so weit geöffnet sind, daß er die Sünde auch in der ätherischen Gestalt des Gedankens zu erkennen vermag! Und Gott sei Dank in Ewigkeit, daß uns Christen die Möglichkeit gegeben ist, uns von jeder Sünde rein zu waschen!“

Meine täglichen kleinen Besuche bei meiner mütterlichen Freundin wurden durch die Gegenwart ihres Neffen nicht beeinträchtigt. Zwar war er in dieser Nachmittagsstunde gewöhnlich bei seiner Tante, aber seine Gegenwart hatte bald nichts Bedrückendes und Störendes mehr für mich. Er hatte etwas so Wohlwollendes in seinem Wesen und sprach so freundlich mit mir, daß ich mir meine Besuche bald gar nicht mehr ohne ihn denken mochte. Sein Töchterlein liebte er mit großer Zärtlichkeit, und wenn dieselbe auf seinen Knien saß und ihm mir ihren Händchen Bart und Haupthaar zerzauste, dann lag es wie lichter Sonnenschein auf seinem männlich ernsten Gesichte, und aus seinen Augen leuchtete ein Strahl innigen Glücks.


Das Weihnachtsfest war herangekommen. So lange ich im Hause der alten Mamsell Mummel war, hatte ich keinen brennenden Christbaum und keine Christbescherung gesehen. Zwar erhielten Lotte und ich das übliche Weihnachtsgeschenk, welches das eine wie das andere Jahr in einem Taler, Zeug zu einer Schürze, einem Stück Honigkuchen, einem Dutzend Äpfel und zwei Dutzend Walnüssen bestand; aber diese Gaben reichte uns unsere Herrin schon am Nachmittage, nach ihrem Prinzip, alle unangenehmen Geschäfte so bald als möglich zu erledigen. Das Weihnachtsfest sei ein langweiliges Fest, pflegte sie bei dieser Gelegenheit zu sagen; sie koste es viel Geld und bringe ihr nichts ein. In ihrer Jugend habe man mit den Weihnachtsgeschenken nicht so viele Umstände gemacht; damals habe man noch billiger davon kommen können, aber die Welt werde immer anspruchsvoller.

Am Christabend wurde bei uns der Tee durch ein Karpfenessen ersetzt, denn meine Herrin sagte, etwas wolle sie doch auch von diesem Tage haben. Es wurde ein großer Karpfen gekauft, den meine Herrin bis auf den Kopf allein verspeiste: Lotte und ich bekamen jede einen halben Kopf. Minörken mochte keine Fische, deshalb erhielt er an dem Abend etwas Gebratenes. Zu dem Karpfen trank meine Herrin eine halbe Flasche Rheinwein, „denn,“ pflegte sie zu sagen, „kein Wein schmeckt zum Fisch als das Gewächs des Rheins; der französische Wein gehört zum Braten.“ Das Lotte und ich keinen Wein bekamen, war selbstverständlich.

„Hüten Sie sich vor dem Genuß des Weines, Mamsell Nelly,“ sagte einst meine Herrin, „der Wein ist jungen Mädchen sehr schädlich; er vergiftet der Jugend das Blut und macht die Nase rot. Sie haben ohnehin Anlage zur roten Nase, und eine rote Nase ist etwas sehr Häßliches. Dem Alter dagegen ist ein Glas Wein eine heilsame Arznei.“

Meine mütterliche Freundin hatte mich aufgefordert, falls ich es möglich machen könne, den Christabend in ihrem Hause zu verleben. Meine Herrin war für den Abend zu einer Freundin gebeten, ich faßte mir daher das Herz, ihr meine Bitte vorzutragen. Sie erteilte mir die erbetene Erlaubnis mit den Worten: „Ja, gehen Sie nur, ich spare dann wenigstens Licht und Feuerung; aber präzise zehn Uhr müssen Sie mich und Minörken abholen.“

Als ich meine Herrin und Minörken um sechs Uhr bei der befreundeten Familie abgeliefert hatte, eilte ich geflügelten Schrittes dem friedlichen Häuschen zu. Schon von fern glänzten mir seine erleuchteten Fenster einladend entgegen. Mein Herz schlug höher; ach, das sollte nun einmal wieder ein Christabend werden, wie ich ihn im elterlichen Hause gewohnt gewesen, mit Tannenbaum und Weihnachtslieder, mit Kerzenschein und Kindesjubel!

Auf der Hausflur empfing mich der Kapitän, und mich in sein Zimmer führend, sagte er: „Heute müssen Sie erst in diesem Zimmer fürlieb nehmen; meine Tante hat Angelika und mich schon seit zwei Stunden aus ihrem Zimmer verbannt. Heute Abend werden alle als Kinder von ihr behandelt.“

Die kleine Angelika befand sich in einer erwartungsvollen Unruhe; bald glaubte sie de Schritt des Christkindes zu vernehmen, bald einen Zipfel seines Gewandes durch das Schlüsselloch gesehen zu haben. Ich nahm die Kleine auf meinen Schoß und erzählte ihr das Märchen vom Bäumchen, das andere Blätter gewollt. Als wir bei den Blättern aus Glas angekommen waren, klingelte es im anstoßenden Zimmer.

„Das Christkind ruft!“ sagte die kleine Angelika und sprang von meinem Schoß herab. Der Kapitän öffnete die Stubentür, und wir blickten in die hell erleuchtete Weihnachtsstube. Ein hoher prächtiger Tannenbaum streckte uns seine beladenen Zweige entgegen. Um ihn her auf dem Tische lagen eine Menge Geschenke.

Die kleine Angelika lief mit lautem Freudengeschrei auf eine Puppe zu, welche in einem zierlichen Wagen saß, nahm dieselbe auf ihren Arm und tanzte laut jubelnd im Zimmer umher. Diesen Augenblick benutzte ich, um die kleinen Gaben, welche ich für Mamsell Mühlenbrink und Angelika gearbeitet hatte, ungesehen auf den Tisch zu legen.

Gleich darauf führte meine mütterliche Freundin mich an eine Stelle des Tisches, wo auch für mich eine Christbescherung aufgebaut war, und sagte lächelnd: „Einen schönen Gruß vom Christkindchen, und dies habe es für Sie mitgebracht.“

Ich war sehr erfreut, aber fast noch mehr beschämt. Um einen Berg von Kuchen und Nüssen herum lagen eine Menge nützlicher und mir sehr wertvoller Geschenke. Zwischen diesen befand sich auch ein Kästchen von seltsamen Aussehen; ich öffnete es, es lag ein Blatt Papier darin, auf welchem einige sehr scherzhafte Verse des Inhalts standen, daß eine braune Indianer-Jungfrau, welche mit ihren kunstfertigen Händen dieses Kästchen geflochten, mir, der fernen blaßgesichtigen Jungfrau, dasselbe sende, damit es in meinen Händen dem Fleiß und der Geschicklichkeit diene. Das Kästchen war also ein Geschenk des Kapitäns. Es freute mich sehr, daß auch er an mich gedacht hatte.

Als die erste stürmische Freude verklungen, setzte Mamsell Mühlenbrink sich ans Klavier, spielte und sang das Weihnachtslied: „Vom Himmel hoch, da komm ich her.“ Der Kapitän und ich fielen ein, und auch die kleine Angelika sang, auf meinem Schoß sitzend, den Gesang taktfest zu Ende mit. Hierauf setzten wir uns zu unserer Abendmahlzeit nieder. Welch ein heiteres, gemütliches Mahl war das! Nach demselben wurde die kleine Angelika, welche sich nur schwer von all den Herrlichkeiten zu trennen vermochte, zu Bett gebracht. Während ich ihr ein Schlummerlied vorsang, hatte der Kapitän Punsch bereitet. Es war dies eine neue Überraschung für mich, denn noch nie in meinem Leben hatte ich Punsch getrunken. Derselbe schmeckte mir so gut, daß ich Mamsell Mummels Warnung hinsichtlich der roten Nase gänzlich außer Acht ließ und sogar noch ein zweites Glas trank.

Wie fröhlich und gemütlich saßen wir Drei beisammen! Der Kapitän erzählte von seinen Reisen, und wir scherzten und lachten. Die Zeit ging dahin, ich merkte es nicht; ich übte in diesen Stunden unbewußt die gepriesene Kunst „allein der heiteren Gegenwart zu leben“: Ich hatte Mamsell Mummel, Minörken und Alles, was mit diesen beiden zusammenhing, vergessen; ich würde auch die Zeit vergessen haben, wenn nicht meine mütterliche Freundin um dreiviertel auf zehn Uhr zum Aufbruch ermahnt hätte.

Erschrocken stand ich auf und band eiligst meinen Mantel um. Mamsell Mühlenbrink legte meine Geschenke in einen Korb. Der Kapitän war gleichfalls aufgestanden und hatte seine Mütze aufgesetzt; er nahm den Korb und sagte: „ich werde Sie begleiten.“ Ich wollte seine Begleitung dankend ablehnen, Mamsell Mühlenbrink aber schob mich mit den Worten: „Liebe Cornelia, Sie haben keine Zeit zu verlieren,“ sanft zur Tür hinaus.

So musste ich es geschehen lassen, daß der Kapitän mich begleitete. Schweigend wanderten wir nebeneinander durch die stillen schneebedeckten Straßen des Städtchens. Sprechen wäre in diesem Augenblicke meinerseits sehr überflüssig gewesen, ich hatte genug mit meiner Freude, meinem Glück zu tun. Ich blickte zum sternbedeckten Nachthimmel empor und würde mich gar nicht gewundert haben, wenn derselbe sich aufgetan und ich die singenden himmlischen Heerscharen erblickt hätte. Es war mir, als wandelte ich auf neuen, unbekannten, wunderschönen Gefilden, eine neue Welt hatte sich in meinem Innern aufgetan; ich wußte diese Welt nicht zu benennen, aber schön, himmlisch schön war es in derselben.

Wir standen vor dem Hause, aus welchem ich meine Herrin abholen sollte. Der Kapitän übergab mir den Korb und reichte mir zum Abschied die Hand. Es war das erste Mal, daß er mir die Hand reichte. Es lag etwas Väterlich-Wohlwollendes in seinem Händedruck. Lange noch fühlte ich den warmen, festen Druck seiner Hand.


Meine Herrin fand ich noch am Whisttische. Als der Robber beendigt war, machten wir uns auf den Heimweg. Minörken hatte geschlafen und war sehr verdrießlich, ich musste ihn auf den Arm nehmen. Den Weg, den ich soeben in gehobener Stimmung zurückgelegt, machte ich jetzt unter wesentlich anderen Umständen. Ich fühlte mich nicht mehr über das Irdische hinausgetragen, sondern betrat mit vollem Bewußtsein die alte wohlbekannte Erde, Schmutz und Schnee zu meinen Füßen. Ich blickte auch nicht mehr erwartungsvoll zum nächtlichen Sternenhimmel empor; ich hatte in nächster Nähe meine ganze Aufmerksamkeit nötig. Auf dem linken Arme trug ich Minörkens ansehnliche Last, während die Hand zugleich den Korb mit den Weihnachtsgeschenken hielt. Am rechten Arm musste ich meine Herrin führen, welche sich, da es ein wenig geglatteist hatte, nicht getraute, allein zu gehen. Es war ein beschwerlicher Gang für mich; ich war ganz und gar wieder auf der Erde.

Meine Herrin war sehr gut gelaunt und daher gesprächig. Sie hatte sogar die Güte, mich zu fragen, ob ich mich gut amüsiert habe. Ohne jedoch meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich habe eine sehr angenehmen Abend verlebt; Frau Grunert versteht es ganz ausgezeichnet, die Wirtin zu machen. Ich habe lange nicht so delikate Karpfen gegessen, wie heute Abend, und habe mich aufs neue überzeugt, daß die blaugesottenen Karpfen den gewöhnlich gekochten bei weitem vorzuziehen sind. Lotte soll von jetzt an meine Karpfen immer blau kochen. Der Ananaspunsch war exzellent und die Macronentorte magnifique. Beim Boston hatte ich heute Abend ungewöhnliches Glück; zweimal Schlemm angesagt und gewonnen und einmal grand misere ouverte. Da wir unter uns ziemlich hoch spielen, so habe ich mich heute nicht schlecht gestanden. Einen solchen Weihnachtsabend lasse ich mir gefallen!“

Jetzt erst bemerkte ich, welch ein eisigkalter Wind wehte, es fröstelte mich im ganzen Körper, auf dem Hinwege hatte ich keine Kälte empfunden.

Vor unserem Hause mussten wir lange klopfen, ehe Lotte uns einließ: Meine Herrin wurde sehr ungeduldig und zankte mit Lotte, daß sie eingeschlafen sei, worauf Lotte, doch so, daß ich es nur hören konnte, erwiderte: „Die Herrschaft meint wohl, allein Punsch trinken zu wollen und mich hier so mit trockenem Munde sitzen lassen! So läuft der Hase indes nicht, ich habe mir auch ein Gläschen Grog gebraut, dem heiligen Christabend zu Ehren!


Nach diesem erfreulichen Zwischenspiele am Weihnachtsabend verlief mein Leben wieder in der gewohnten einförmigen Weise; nur mit dem Unterschiede, daß die Wunderlichkeiten meiner Herrin mir jetzt weniger schwer zu ertragen wurden. Ich wunderte mich zuweilen selbst darüber; auch Lotte schien es nicht es nicht zu begreifen, denn einmal – es war einige Wochen nach Neujahr – sagte sie zu mir: „Mamsellchen, ich fange an Respekt vor Ihnen zu bekommen, denn Sie sind nach mir die Einzige, welche das Spiel in diesem Hause nicht verläuft; und dabei werden Sie mit jedem Tage fröhlicher, das bringe ich nicht fertig.“

Ich antwortete ihr: „Lotte, ich weiß nicht, wie es zugeht, aber es ist wahr, ich bin sehr vergnügt.“

Meine Herrin sagte um dieselbe Zeit: „Mamsell Nelly, ich nehme mit Befriedigung wahr, daß Sie bemüht sind, das gedrückte, sauertöpfische Wesen, das Ihnen von Ihrem elterlichen Hause her noch anklebt, immer mehr abzulegen. Fahren Sie so fort, und ich hoffe, es wird Ihnen gelingen, sich immer mehr meine Zufriedenheit zu erwerben. Ich hasse nichts mehr als betrübte Gesichter!“

Meine täglichen Besuche im stillen friedlichen Häuschen draußen vor dem Tore waren der Sonnenschein, der mit seinen milden Strahlen tausend bunte Blumen in meinem Herzen erblühen ließ. Das wußten aber Lotte und meine Herrin nicht, und mir selbst war es damals auch nicht klar. Ich durchschaute die Sache erst, als die Sonne schwand und die Blumen starben.


Eines Tages – es war im Februar – kam mir Angelika mit der Nachricht entgegen, daß ihr Papa am Morgen abgereist sei und erst in acht bis vierzehn Tagen zurückkehren werde. Mamsell Mühlenbrink bestätigte die Aussage der Kleinen mit der Ergänzung, daß diese Abwesenheit ihres Neffen schon eine Vorbereitung auf die bald nach Ostern2 von ihm zu unternehmende große Seereise bezwecke. „Und ich,“ fügte sie traurig hinzu, „soll mich in dieser Zeit wieder an den Gedanken künftiger Einsamkeit zu gewöhnen suchen. Doch,“ verbesserte sie sich, „ich will dem lieben Gott für das genossene Gute herzlich dankbar sein; es war ein herrlicher, erquickender Winter für mich; und wie viel läßt Er mir doch auch noch in meiner süßen kleinen Angelika und Ihnen, meine liebe Cornelia!“ Hierbei reichte sie mir mit der ihr eigentümlichen Herzlichkeit die Hand.

Ich war beinahe erschrocken über diesen Ausspruch; ich armes einfältiges Kind sollte einer Frau, wie Mamsell Mühlenbrink, etwas sein können! Das war dich unmöglich. Die mir dargereichte Hand in herzlicher Verehrung küssend, sprach ich meine Verwunderung über das eben Gehörte aus.

Mamsell Mühlenbrink entgegnete: „Wenn Gott der Herr zwei Menschen in Liebe und Freundschaft zusammenführt, so sollen sie durch diese Verbindung beide gewinnen; man gewinnt aber nicht nur im Nehmen, man gewinnt aber auch ebensosehr im Geben.“

Dies verstand ich damals noch nicht; später habe ich es verstehen gelernt, als auch ich durch Gottes Gnade so weit vorgerückt war, daß ich gebend nehmen durfte.

Die Zeit von jetzt bis Ostern verschwand den Bewohnern des stillen Häuschens und mir wie im Fluge; ehe wir uns dessen versahen, war der Tag herangekommen, der uns allen so großes Herzeleid bereiten sollte.

Als der Kapitän mir zu Abschied die Hand reichte, sagte er nicht ohne Bewegung in seinem männlich festen Gesichte: „Ein solcher Winter, wie der eben verlebte, wird mir fürs erste wohl nicht wieder zu Teil werden. Das häusliche Glück ist Seeleuten in der Regel nur nach Tagen zugemessen. Es werden voraussichtlich wohl mehrere Jahre vergehen, ehe ich meine Tante und mein Töchterchen wiedersehen darf. Eine große Beruhigung ist es für mich, Sie hier zu wissen. Meine Tante und Angelika haben beide Sie sehr lieb, und Ihre Gegenwart und Teilnahme wird beiden in meiner Abwesenheit ein Trost sein. Wenn ich einmal wiederkomme, sind Sie vielleicht nicht mehr hier; doch meine Dankbarkeit für die den Meinigen erwiesene Liebe wird Ihnen folgen, wohin Sie auch gehen. Möge Gottes Segen immer mit Ihnen sein!.

Er drückte mir mit herzlichem Wohlwollen die Hand. Ich versuchte, ein Wort der Erwiderung und des Abschieds zu sagen, vermochte aber vor innerer Bewegung keine Silbe hervorzubringen. Da wollte ich ihn wenigstens noch einmal ansehen, aber auch das ging nicht, denn ich fühlte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten, und Tränen sollte er nicht sehen.

So schieden wir, und ich habe ihn nicht wieder gesehen.

Den Tag über ging ich wie im Traume umher und gab meiner Herrin mehrmals Veranlassung, über meine Vergeßlichkeit und mein zerstreutes Wesen zu klagen. Die Stunden bis zum Abend, da meine Herrin mich mit der Ermahnung, morgen ja recht munter zu sein, entließ, wurden mir sehr lang und sehr sauer. Es war mir zu Mute, wie es dem Schiffer sein muss, der sein Schiff mit seiner ganzen Habe als Wrack vor sich auf dem Meere schwimmen sieht, während er selbst von einer unbarmherzigen Welle auf eine öde Insel geschleudert worden ist; oder wie es dem Gärtner sein muss, der seinen Garten mit den schönsten Blumen von einem Hagelschauer verwüstet findet.

Als ich endlich am Abend allein auf meiner Dachkammer war, setzte ich mich auf meinen Koffer – dies tat ich immer, wenn ich betrübt war – und weinte, weinte lange und heiß. Diese Tränen waren die erste Wohltat an diesem schweren Tage. Und eine Wohltat waren sie in der Tat, denn die Starrheit meines Schmerzes floß mir ihnen dahin, und es währte auch nicht lange, da konnte ich schon wieder einen vernünftigen Gedanken fassen. Ich sagte zu mir: „Cornelia Jocundus, wozu nützt dir das Licht von Oben, wenn du es nicht gebrauchst?“ Und ich kniete nieder, blickte durch das kleine Dachfenster zum dunklen wolkenbedeckten Himmel empor und bat Gott um Licht und Stille für mein dunkles, sturmbewegtes Herz. Ich betete lange, als ich aber aufstand, um mich noch zu einer kurzen Nachtruhe niederzulegen, da war mir zu Mute, wie einem Genesenden, der sich zwar müde und matt an Leib und Seele fühlt, der aber zugleich weiß,daß dies noch keine Krankheit zum Tode ist.

Am anderen Morgen beim Frühstück sah meine Herrin mich forschend an und fragte: „Sind Sie krank, Mamsell Nelly? Sie sehen ja so blaß aus.“

Ich erwiderte, daß ich mich am gestrigen Tage nicht wohl gefühlt habe, daß es mir heute aber schon besser gehe, worauf meine Herrin entgegnete:

„Das freut mich zu hören. Mit Kranksein muss die Jugend sich auch nicht befassen; dazu ist im Alter immer noch Zeit genug. Die Jugend ist die Zeit der Arbeit und des Schaffens. Ich hoffe, Mamsell Nelly, Ihre Gesichtsfarbe wird sich daher bald wieder ändern; blasse, schwächlich aussehende junge Mädchen sind mir geradezu unausstehlich!“


Als ich am Nachmittage gewohnter Weise im stillen Häuschen vorsprach, kam mir die kleine Angelika mit der Nachricht entgegen, daß ihr Papa am Morgen sehr früh abgereist sei, und das sie ihm daher schon am gestrigen Abend Lebewohl habe sagen müssen.

Meine mütterliche Freundin saß wie gewöhnlich in ihrem Lehnstuhle am Fenster und strickte, und der Kanarienvogel vor ihr auf der Fensterbank hüpfte und sang wie sonst. Auch sie sah sehr blaß aus; übrigens war ihr friedliches, freundliches Gesicht unverändert.

Als ich ihr die Hand reichte, blickte sie mir besorgt fragend ins Auge, dann umarmte und küßte sie mich mit besonderer Zärtlichkeit. Keine von uns sprach ein Wort, und doch hatten wir uns noch nie so gut verstanden, wie in diesem Augenblicke. Ihre Liebe tat mir unbeschreiblich wohl, aber dennoch musste ich weinen. Als sie meine Tränen fließen sah, weinte auch sie. So saßen wir stumm neben einender; da kam auch die kleine Angelika mit Minörken ins Zimmer gesprungen, und der Papagei rief:

„Minörken, Minörken, sei lustig und froh;
Du bist ja der Mops im Paletot!“

Dieser Reim war dem Papagei offenbar gestern Nachmittag noch vom Kapitän gelehrt worden und zwar mit der Berechnung, daß derselbe das Gelernte heute bei Minörkens Anblick zum Besten geben und auf diese Weise einen erheiternden Abschiedsgruß von ihm an uns übermitteln sollte. Seine Absicht wurde auch vollständig erreicht; die kleine Angelika klatschte entzückt in die Hände und tanzte mit Minörken im Zimmer umher, und wir mussten lachen, obgleich Tränen auch in unseren Augen standen. Der Papagei lachte mit und wiederholte dazwischen sein:

„Minörken, Minörken, sei lustig und froh;
Du bist ja der Mops im Paletot!“

Der erste Brief des Kapitäns war von England aus geschrieben und enthielt nur gute Nachrichten. Seine Ankunft bereitete große Freude im stillen Häuschen. Mamsell Mühlenbrink las mir ganze Seiten aus demselben vor; er enthielt auch einen Gruß für mich.

Das stille, friedliche Häuschen ward mir je länger, je mehr eine zweite Heimat; Mamsell Mühlenbrink liebte ich, wie ich meine Mutter geliebt hatte, und Angelika? Ja, die liebte ich wie mein jüngstes Schwesterlein, nur vielleicht noch inniger und zärtlicher.

Meine mütterliche Freundin machte mir auch aus jedem folgenden Briefe ihres Neffen Mitteilung und bestellte mir seine Grüße, sonst aber sprachen wir nie über ihn. Ich bemühte mich auch, nicht an ihn zu denken; denn es war ja ein nutzloses Denken und hinderte mich außerdem in meiner Pflichterfüllung.

Nach und nach wurde mir mein inniges Verhältnis zum Kapitän verständlich. Zu meinem Vater hatte ich mit einer unbegrenzten Liebe und Verehrung emporgeblickt; er war für mich der Inbegriff aller männlichen Vollkommenheit, ja, ein Wesen höherer Ordnung gewesen. Der Kapitän war nach meinem Vater der einzige Mann, den etwas näher kennen zu lernen ich Gelegenheit gehabt hatte. Und da war es denn, zumal bei der imponierenden und zugleich einnehmenden Persönlichkeit desselben, eigentlich ganz natürlich, daß auch er meinem jugendlichen Herzen ein Gegenstand der Verehrung und Liebe wurde. Was mein Gefühl für ihn noch steigern mochte, war meine große Liebe zu seiner Tante und seinem Kinde. So hatte ich ihm unbewußt mein ganzes Herz entgegengebracht. Und nun war er abgereist. Ich hätte ihm so gern gedient mit meinen besten Kräften mein Leben lang, er aber hatte es nicht begehrt.

Ich war sehr traurig und – ich gestehe es – zugleich sehr beschämt. Ich kam mir vor wie eine Verschmähte, obgleich er wohl kaum eine Ahnung von meinem Gefühl für ihn haben konnte.

In den ersten Tagen nach der Abreise des Kapitäns hatte ich schwer zu leiden und zu kämpfen; aber mit Gottes Hilfe ordnete ich auch diese Angelegenheit bald und nahm mir aus diesem Vorgang die Lehre, künftig wachsamer zu sein und auch meine Gefühle und Gedanken in strenger, heilsamer Zucht zu halten. Und ich dachte daran, wie der Apostel Paulus den ledigen Stand so hoch gehalten und freute mich seines Ausspruches im Korintherbrief. Die betreffende Stelle ist mir seitdem noch immer lieber geworden. Der Jungfrauenstand, oder wie die Welt ihn spottend zu nennen pflegt, der Stand der alten Jungfern, ist nach meiner Erfahrung ein Stand, in dem es sich sehr glücklich und zufrieden leben läßt. Es hat nie ein Mann um meine Hand geworben, aber auch das hat mich nicht unglücklich gemacht, denn ich weiß, daß Gott meinen Lebenslauf so und nicht anders geordnet hat. „Was der Herr hat zugedacht, das wird mir auch ins Haus gebracht.“ Dieser Wahlspruch meiner mütterlichen Freundin hat mir in verschiedenen Lagen meines Lebens gute Dienste getan, und ich möchte daher denselben hiermit an meine lieben Nichten und an alle junge Mädchen, die dieses lesen, zu gleicher Verwendung weiter gegeben haben.

Den Schluß dieses Kapitels bilde eine Nachricht, die mir freilich erst viele Jahre später geworden ist, die sich aber ihrem Inhalte nach an das in diesem Kapitel Mitgeteilte anschließt.

Meine mütterliche Freundin hat gewünscht, ihr Neffe möchte mich als seine Frau heimführen, und sie hat ihm auch kurz vor seiner Abreise diesen Wunsch mitgeteilt, worauf er geantwortet:

„Liebe Tante, das Leben eines Seemanns eignet sich wenig zur Gründung eines häuslichen Herdes. Einmal habe ich geheiratet, es war aus wahrer, inniger Neigung. Mein Glück hat nur kurze Zeit gewährt, aber ich mag noch nicht wieder an eine zweite Heirat denken. In fünf bis sechs Jahren hoffe ich mein unstetes Seeleben aufgeben zu können. Ist dies geschehen, dann gründe ich vielleicht zum zweiten Mal eine Häuslichkeit; bis dahin wird Angelika Dir wohl aufgehoben sein.“

Die Zeit ist gekommen; er hat sein unruhiges Seeleben aufgegeben und hat sich zum zweiten Mal eine Häuslichkeit gegründet, in welcher er bis vor einigen Jahren, umgeben von einer blühenden Kinderschar, glücklich gelebt hat. Jetzt ist er droben, und ich freue mich auf das Wiedersehen mit ihm. Ich denke auch, daß er sich freuen wird, mich wiederzusehen, denn, hat er mich auch nicht geliebt, so ist er mir doch gut gewesen um seiner Tante und um seines süßen Töchterchens willen, die mich beide so lieb gehabt haben.

Meine Angelika – ich sage mein mit dem Recht, das die Liebe gibt – hat nur einen kurzen Lebenslauf gehabt; ein Jahr, nachdem ihr Vater sich wieder verheiratet, starb sie, sechzehn Jahre alt, an einem zehrenden Fieber. Ihre letzten Worte sind das Gebet Johann Heermanns gewesen:

„Jesu, Herr und Gott,
Groß ist meine Not,
Komm, Du kannst sie wenden,
Hilf mir selig enden!“

Als ich die Nachricht ihres Todes erhielt, nahm ich meine Bibel und schlug das Buch der Weisheit Salomons auf. Dieses Buch gehört freilich zu den Apokryphen, die der heiligen Schrift nicht gleich zu stellen, aber nach Dr. Martin Luthers Ausspruch „doch nützlich und gut zu lesen sind“, und las das vierte Kapitel und in dem vierten Kapitel besonders Vers 10-14, in denen es heißt: „Er gefällt Gott wohl und ist Ihm lieb, und wird weggenommen aus dem Leben unter den Sündern; und wird hingerückt, das die Bosheit seinen Verstand nicht verkehre, noch falsche Lehre seine Seele betrüge. Denn die bösen Exempel verführen und verderben einem das Gute, und die reizende Lust verkehret unschuldige Herzen. Er ist vollkommen geworden und hat viele Jahre erfüllet. Denn seine Seele gefällt Gott, darum eilet Er mit ihm aus dem bösen Leben.“

Und es war mir, als seien diese Worte eigens für meine Angelika geschrieben. Ich faltete meine Hände und dankte Gott, daß dies Kind, an dem meine Seele mit wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit hing, dem Gewirr des Erdenlebens entnommen nun wohlgeborgen bei Ihm im Himmel sei.


1)  Psalm 51,10-11

2)  Der erste Sonntag nach dem ersten Frülingsvollmond


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