Licht von Oben - Buchdeckel

Minörken wandert den Weg alles Fleisches und meine Herrin wird krank

Fünf Jahre war ich im Hause der alten Mamsell Mummel gewesen. In diesem Zeitraume noch weit umfangreicher, noch weit unzufriedener und noch mißtrauischer geworden. Auch Minörken hatte in bedenklicher Weise an Dicke un Schwerfälligkeit zugenommen. Lotte war äußerlich und innerlich immer mehr verschrumpft und vertrocknet.

Meine Herrin und Lotte waren sich bei aller äußeren Verschiedenheit doch innerlich sehr ähnlich; beide waren in selbstsüchtiger Abgeschlossenheit einsam und kalt durchs Leben gegangen; einsam und kalt standen sie jetzt in ihrem Alter da. Fünfunddreißig Jahre hatte Lotte meiner Herrin gedient, aber in diesem langen Zeitraume hatte sich zwischen Herrin und Dienerin kein Verhältnis der Zuneigung und Anhänglichkeit gebildet. Jede hatte in dem Verhältnis ausschließlich für sich den irdischen Vorteil gesucht, und daher hatte auch keine von ihnen himmlischen Gewinn gefunden.

Ich habe einmal ein Gedicht gelesen, in welchem es heißt:

„Es schläft ein Engel in jeder Brust,
Den Du aufsuchen und wecken musst.
Er ruht verborgen oft tief in Nacht,
Und böse Geister stehn um ihn Wacht.
Doch weckst Du mutig den Engel auf,
Fliehn sie von dannen im scheuen Lauf.
Er aber dankt Dir vom Schlafe erwacht,
Und preiset mit Dir der Liebe Macht.“

Als ich dieses las, musste ich an meine Herrin und die alte Lotte denken, die damals beide schon den letzten, langen Schlaf schliefen. Auch in jeder dieser Seelen hatte gewiß ein guter Engel geschlafen, der aber, so weit Menschenaugen zu sehen vermochten, nicht aufgeweckt worden ist. Die bösen Geister der Selbstsucht und des Geizes hatten ein festes Bollwerk um den schlafenden Engel aufgeführt und scheuchten jeden, der es versuchen mochte, einen Zugang zu finden, gewaltsam zurück.

Zu diesem Zugang Suchenden gehörte auch ich; aber es ist mir nicht gelungen, einen Zugang zu ihrem Herzen zu finden. Bei Lotte schien es mir bisweilen, als zeigte sich in der Eisumhüllung ihres Herzens ein Spalt, durch welchen es dann – aber nur für einen Moment – wie warmes pulsierendes Leben herausströmte. Bei meiner Herrin aber zeigte sich auch nicht einmal dieser Spalt.

Ich hatte es später als etwas Großes schätzen gelernt, daß es mir trotz der geringen Freundlichkeit, welche beide für mich hatten, doch stets möglich war, aus warmem Herzen für sie zu beten; denn ich glaube gewiß, daß alle diejenigen, für die der Herr noch warme, treue Fürbitte zuläßt, auch gerettet werden. Den Zugang, den Menschen nicht gefunden, kann doch Gott, wenn auch vielleicht erst im letzte Stündlein, und ungesehen von Menschenaugen, finden. Dies ist meine Hoffnung für meine Herrin und die alte Lotte.

Wie weit ich mich in den fünf Jahren verändert, vermag ich nicht anzugeben. Meine Herrin sagte einmal zu mir: „Mamsell Nelly, Sie sind auf gutem Wege. Fahren Sie fort, dann kann mit der Zeit noch ein ganz brauchbares Frauenzimmer aus Ihnen werden.“ Obgleich dieses Lob dem Wortlaut nach nicht viel besagte, so drückte es doch in dem Munde meiner Herrin Zufriedenheit mit meinen Leistungen aus, und das glaube ich als ein Zeichen nehmen zu dürfen, daß ich in der Entwicklung meiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten wenigstens nicht zurückgeblieben bin.

Körperlich war ich, trotz schmaler Kost, die ich empfing, ein großes, kräftiges Mädchen geworden; ein Beweis mehr, das auch der Herr das Wenige zu segnen vermag. Hübsch bin ich nie gewesen. Mitunter habe ich gewünscht, es zu sein; im Allgemeinen aber hat dieser Umstand mir wenig Kummer verursacht. Als ich einmal diesen törichten Wunsch gegen meine mütterliche Freundin aussprach, sah mich dieselbe mit ihren lieben, treuen Augen eindringlich an und fragte: „Liebste Cornelia, haben Sie sich wohl schon einmal bei unserm lieben Herrgott dafür bedankt, daß Sie nicht gerade zu häßlich sind?“

Ich musste mit Beschämung gestehen, daß dies noch nicht der Fall gewesen. „Dann“ fuhr Mamsell Mühlenbrink fort, „vergessen Sie nicht, es heute Abend zu tun.“

Ich habe es getan und bin seitdem mit meiner Gesichtsbildung wohl zufrieden gewesen. Was meine Geistige Ausstattung betrifft, so glaube ich, meinen richtigen Anteil gesunden Menschenverstand von meinem gnädigen Schöpfer mit auf den Weg bekommen zu haben. Das bischen Beiwerk an erforderlichem Schulwissen verdanke ich meinem Vater. Und hiermit besaß ich alles, was einem Mädchen nötig ist, um ihren Weg ehrenvoll durch dieses Leben zu machen. Und ich habe ihn gemacht, wenn auch mancher saure Tritt auf demselben liegt, bis in dies gesegnete Altenstübchen hinein.

Eines Tages war Minörken nicht wie sonst; er verschmähte sein Frühstück und ließ Schwanz und Ohren hängen. Der Tierarzt wurde gerufen, und Minörken musste Medizin nehmen. Es half aber nichts; Minörkens Lebenszeit war abgelaufen; nach wenigen Tagen war er tot.

Meine Herrin war geradezu untröstlich, sie weinte und jammerte laut. Ich versuchte ihr einige Trostworte zu sagen, wurde aber sofort mit der Bemerkung, daß ich mich nicht in ihre Gefühle zu mischen habe, zum Schweigen verwiesen. Dann erhielt ich meine Instruktion hinsichtlich Minörkens Beerdigung. Als derselbe blumengeschmückt in seinem kleinen Sarge lag, fragte ich meine Herrin, ob sie ihn nicht noch einmal sehen wollte.

Abwehrend streckte sie mir beide Hände entgegen und rief entsetzt: „Den toten Hund soll ich sehen? Wie können Sie so etwas von mir erwarten?“

Ich erwiderte: „Sie haben Minörken aber doch so lieb gehabt, und er liegt jetzt so hübsch in seinem Sarge.“

Sie entgegnete: „Ja, ich habe ihn lieb gehabt, aber jetzt ist er tot und der Tod ist schauderhaft.“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und weinte. Ich hatte tiefes Mitleid mit meiner unglücklichen Herrin, wußte ihr aber nicht zu helfen.

Lotte und ich begruben Minörken hinten im Garten. Auch mir ging Minörkens Verlust nahe. So widerwärtig derselbe mir anfangs auch gewesen war, so hatte ich mich doch mit der Zeit an ihn gewöhnt und ihn, da er große Anhänglichkeit an mir zeigte, sogar gern gehabt.

Unser erstes Mittagsmahl nach Minörkens Tode war besonders still und wehmütig. Lotte hatte in guter Absicht das Lieblingsessen meiner Herrin, eine fette, gebratene Ente, auf den Tisch gestellt. Meine Herrin aber aß nur wenig und sah ein paarmal unwillkürlich nach der Ecke, in welcher Minörken sonst sein Futter zu sich nahm. Als ich meinen Entenflügel verzehrt hatte, schnitt meine Herrin noch ein Stück von der Brust ab und legte es mir mit den Worten: „Da, essen Sie, er bekommt jetzt ja doch nichts mehr davon!“ auf meinen Teller. Dann legte sie selbst Messer und Gabel nieder und weinte still. Unter anderen Umständen würde mir diese Extraportion Entenbraten gewiß sehr gut geschmeckt haben; als ich aber meine Herrin so betrübt weinen sah, musste auch ich weinen, und die mir zugedachte Wohltat fand nicht die verdiente Würdigung.

Seit Minörkens Tode zeigte meine Herrin eine seltsame Unruhe. Sonst hatte sie stundenlang, mit Minörken auf dem Schoß, in ihrem Lehnstuhl gesessen, mit ihm gespielt oder auf die Straße geblickt und ihre Bemerkungen über die Vorübergehenden gemacht. Jetzt konnte sie kaum eine Viertelstunde ruhig sitzen. Wie von unsichtbaren Feinden gejagt, ging sie im Zimmer auf und nieder, bis gänzliche Erschöpfung sie nötigte, ihre Wanderung einzustellen. Ich musste sie dann auf das Sofa betten, aber auch hier hatte sie keine Ruhe; sobald sich ihre Kräfte nur etwas erholt hatten, begann sie ihre Wanderung aufs neue. Offenbar waren es Todesgedanken, die sie peinigten und ihr keine Ruhe ließen.

Einst sagte sie: „Das Sterben ist eine ganz miserable Einrichtung; warum können wir nicht immer hier bleiben?“

Ich wagte die Entgegnung, daß es aber doch für viele Menschen sehr betrübt sein würde, wenn sie sich ewig hier auf dieser armen Erde plagen müßten.

„Nun ja,“ antwortete meine Herrin, „die könnten denn auch meinetwegen sterben; ich selbst aber mag nicht sterben und will auch nicht an den Tod denken. Mamsell Nelly, erzählen Sie mir eine recht lustige Geschichte!“

Ich sage, saß ich wohl eine Geschichte erzählen wolle, aber eine lustige wüsste ich in diesem Augenblicke nicht.

„Nun, dann ist's auch einerlei,“ erwiderte sie, „nur her mit dem, was sie wissen, es vertreibt wenigstens für einige Augenblicke die dummen Gedanken.“

Ich erzählte ihr nun folgende Geschichte, die ich einmal gelesen, und die großen Eindruck auf mich gemacht hatte:

Vier Freunde saßen in einem Gasthause bei einem heiteren Mahle. Es ist der Abend vor ihrem Abschied von der Heimat; denn alle vier wollen morgen in die Welt hinaus, um ihr Glück zu versuchen. Sie alle streben nach hohen Dingen, nach Glanz und Ehre in dieser Welt, und jeder meint auf seinem Wege das Ziel zu erreichen. Sie gedenken der Vergangenheit, ihrer Knabenzeit, und wie sie stets gute Kameradschaft gehalten. Und einer von ihnen steht auf und spricht:

„Freunde, heute sitzen wir hier so fröhlich und traulich beisammen, morgen geht's in die Welt hinaus, und wir werden in alle vier Winde zerstreut werden. Es wird auch keiner von uns viel Zeit haben, der Anderen zu gedenken, denn um unser Ziel zu erreichen, hat jeder seine ganze Kraft und alle seine Gedanken nötig. Aber schade wäre es, wenn wir vier nicht noch einmal wieder beisammen sein sollten, nachdem ein jeder von uns sein Ziel erreicht hat; ich schlage vor, daß wir uns das Versprechen geben, heute in fünfzig Jahren hier wieder zu erscheinen; wer nicht kommt, stellt damit seinen Totenschein aus. Denn wir wollen sehen, wer von uns es am weitesten gebracht, wem die Palme gebührt!“

Dieser Vorschlag wurde von den anderen Dreien mit Beifall aufgenommen. Sie reichten sich die Hände und versprachen nach fünfzig Jahren, falls sie noch am Leben seien, sich wieder hier einzufinden.

Am anderen Morgen zogen vier lebensfrohe und lebensmutige Burschen ihre Straße, um den Kampf mit dem Leben aufzunehmen und Ruhm, Ehre und Reichtum für sich in diesem Kampfe zu gewinnen.

Jahre gingen dahin. Fünfzigmal erneuerte sich die Gestalt der Erde; im Leben der Völker wie der einzelnen Menschen traten große Veränderungen ein. Die vier Freunde hörten nichts von einander; sie waren weit zerstreut. Aber jeder von ihnen gedachte des festgesetzten Tages und seines Versprechens und freute sich auf das Wiedersehen mit den Gefährten der Jugend.

Der Tag erscheint. Das Wirtshaus steht noch; es hat auch sein Glück gemacht, senn es ist stattlich ausgebaut und prangt heute außerdem in festlichem Schmucke; Kränze und Girlanden zieren es, und vom Dache weht eine mächtige Fahne. Wirt und Wirtin stehen, gleichfalls festlich geschmückt, in der offenen Haustür, um ihre Gäste zu empfangen, denn vier fremde Herren aus weiter Ferne haben sich auf heute bei ihnen gemeldet.

Da bläst ein Postillon, und ein eleganter Reisewagen fährt vor. Der Kellner öffnet den Wagenschlag, und ein korpulenter, alter Herr steigt mühsam heraus; es ist ein reicher Handelsherr, der drüben in der neuen Welt sein Glück gemacht hat. Bald darauf hält wieder ein Reisewagen vor der Tür, und ein hochgewachsener alter Herr in reicher, glänzender Generalsuniform, mit mehreren Narben im Gesicht, steigt aus. Ein dritter Reisewagen kommt, bestaubt und wenig elegant. Heraus steigt ein alter, gebückter Herr, der trotz seiner Brille den Wagentritt nicht finden kann, so daß ein Kellner herbeispringen und ihm helfen muss: Es ist der gelehrte Professor N. Kaum ist derselbe ins Haus getreten, so erscheint zu Fuß ein alter Mann im schlichten Priestergewande.

Die vier Freunde sind beisammen und begrüßen sich herzlich, wobei es natürlich an Ausrufen der Verwunderung nicht fehlt. Dann setzten sie sich zu einem splendiden Mahle nieder. Wirt und Wirtin haben ihr Möglichstes getan; die vornehmen fremden Herren können es ja bezahlen. Die Gäste lassen es sich auch schmecken und sind gesprächig und heiter, aber in ihre Heiterkeit mischt sich der Ernst der Jahre und die Wehmut des Alters.

Gegen Ende der Mahlzeit erhebt sich der Herr in Generalsuniform und spricht:

„Meine Freunde, ich war es, der vor fünfzig Jahren den Vorschlag machte, uns heute hier wieder zusammenzufinden, um zu sehen, wer von uns das höchste ziel erreicht, und um denselben dann die Palme des Ruhms zuzusprechen. Laßt mich daher auch den ersten Bericht erstatten. Auf dem Schlachtfelde habe ich mir Ehre und Ruhm erworben, das zeigt meine Uniform, das bezeugen die Narben meines Angesichts und die Orden auf meiner Brust. Zweimal hat mein König mit höchsteigener Hand auf dem Felde der Ehre die Brust dekoriert, die ich für ihn dem Feinde bot. Mein Ziel ist erreicht, ich habe in meiner Karriere die höchste Stufe erstiegen.“

Er setzt sich, und sein Nachbar, der korpulente Herr im schwarzen Frack, nimmt das Wort:

„Meine Freunde, um Reichtum und durch denselben Ansehen und Macht zu erlangen, schiffte ich über das Meer. Ich habe gearbeitet, gewacht, gerechnet und gewagt; ich habe keine Mühe, keinen Weg gescheut; ich habe mich auch gebückt, wenn es nötig war, denn ich hatte immer das eine Ziel vor Augen. Es ist erreicht, mein Vermögen zählt nach Millionen, ich bin bei meinen Mitbürgern geachtet, und mein Wort wiegt schwer auf der Börse. Ich glaube also zufrieden sein zu können mit dem, was ich errungen.“

Er setzt sich und wischt sich den Schweiß von der Stirn, denn das Stehen und Reden ist ihm sauer gekommen. Ihm folgt der gebückte Herr mit der Brille und läßt sich also vernehmen:

„Vom Wissensdurst getrieben, habe ich versucht, alle Tiefen der Weisheit zu erforschen. Ich habe den Schlaf meiner Nächte geopfert und mein Augenlicht nicht geschont, dafür aber glänze ich jetzt am Gelehrtenhimmel als Stern erster Größe; alljährlich sitzt eine große Schar wißbegieriger Jünglinge zu meinen Füßen und hängt an meinem Munde; mein Wort ist ihnen ein Evangelium, sie lieben und verehren mich. Ich herrsche, ein König im Reiche des Geistes. Orden und Titel sind mir in Menge verliehen.“

Auch der Gelehrte setzt sich und sucht tastend nach seinem Weinglase. Nun erhebt sich als der letzte der Mann im schlichten Priesterrocke und spricht:

„Meine lieben Freunde! Ihr habt gefunden, was ihr gesucht, und erreicht, was ihr erstrebt. Ich habe mehr gefunden, als ich gesucht, und mehr erreicht, als ich begehrt. Ich bin Pfarrer in einem kleinen, entlegenen Gebirgsdorfe, höher habe ich es in dieser Welt nicht gebracht. Orden und Titel schmücken mich nicht, und mein Einkommen sichert mich kaum vor Entbehrungen; und dennoch behaupte ich, das höchste Ziel erreicht zu haben, das ein Mensch in dieser Welt erreichen kann, denn ich habe gelernt, mit dem alten Simeon zu sprechen. „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben Deinen Heiland gesehen!“1

Einen Augenblick stutzten die Freunde bei dieser Rede, dann aber reichte einer nach dem anderen dem Pfarrer die Hand, und alle erkennen ihm die Palme zu, denn bis zur Sterbensfreudigkeit hat es sonst keiner von ihnen gebracht. -

Als ich schwieg, seufzte meine Herrin tief, sagte aber nichts. Nach einer Weile aber fragte sie:

„Mamsell Nelly, Sie werden doch nicht krank? Mir deucht, Sie sehen blaß und elend aus.“

Ich versicherte, daß ich mich durchaus wohl fühle. Sie aber fuhr fort:

„Ich fürchte, das sagen Sie, um mich zu täuschen. Sie sehen wirklich sehr elend aus. Sie sind aber auch, seit er nicht mehr da ist, gar nicht an die Luft gekommen. Das geht nicht, Sie müssen täglich hinaus auch ohne ihn. Hören Sie? Jeden Nachmittag, während ich schlafe, sollen sie wie sonst spazieren gehen. Es ist zu wichtig, daß Sie gesund bleiben; was sollte ich anfangen, wenn Sie krank würden? Einen zweiten Todesfall in meinem Hause überleb ich nicht!“

ich versprach der Anweisung meiner Herrin pünktlich nachkommen zu wollen, und eilte am nächsten Tage frohen Herzens zu meiner mütterlichen Freundin, die ich seit Minörkens Tode nicht wieder gesehen hatte: Sie und Angelika empfingen mich mit sichtlicher Freude, der Papagei aber rief bei meinem Anblick mit melancholischem Ton sein „Mih – nöhr – ken! Mih – nöhr – ken!“

Das Befinden meiner Herrin besserte sich nicht, so daß sie nach wenigen Tagen auf meinen Vorschlag, den Arzt rufen zu lassen, einging. Der Arzt kam, es war ein alter, steifer Herr mit einer großen hörnernen Brille, einem spanischen Rohr mit goldenem Knopf und einer silbernen Schnupftabaksdose. Er machte ein sehr gelehrtes Gesicht, nahm mehrere Male eine Priese, tat viele Fragen und verschrieb ein langes Rezept. Beim Fortgehen hatte er auf die Stubentür zeigend zu Lotte gesagt: „Der fehlt weiter nichts als der Mops!“

Jede Stunde, sobald der Kuckuck gerufen, musste ich meiner Herrin einen Löffel vil Medizin eingeben. Als die Flasche leer war, besah sie dieselbe und sagte:

„Damit wären wir fertig. Sechzehn Groschen hat die Flasche voll Medizin gekostet. Sechzehn Löffel habe ich daraus genommen, macht für den Löffel voll gerade einen Groschen; genützt aber hat es mir nichts. Ich werde also keine Torin sein und noch einmal sechzehn Groschen zum Fenster hinauswerfen.“

Am anderen Tage sagte sie zum Doktor: „Herr Doktor, ich danke Ihnen vielmals, ich bin jetzt ganz gesund; Ihre Medizin hat wundervoll geholfen.“

Der alte Herr machte zuerst ein etwas verwundertes Gesicht, dann sprach er meiner Herrin seine Freude über ihre rasche Genesung aus, fügte ein kurzes Lob auf die ärztliche Kunst hinzu und verabschiedete sich. Ihm nachblickend, sagte meine Herrin zu mir: „Der Scharlatan! Er meint wirklich, sein Hexengebräu habe mich kuriert.“

Zu derselben Zeit hatte Lotte gehört, wie der alte Herr auf dem Hausflur vor sich hingemurmelt: „Es geschehen noch immer Zeichen und Wunder! Einbildung macht krank, und Einbildung macht gesund.“

Meine Herrin war aber nicht gesund, obgleich der Doktor es meinte und sie selbst es sein wollte.

Ich habe einmal den Ausspruch gelesen: „Scheine froh, so wirst du froh.“ Diesen Satz schien meine Herrin mit der Abänderung in „Scheine gesund, so wirst Du gesund“; in Anwendung bringen zu wollen; denn sie gab sich alle erdenkliche Mühe, gesund zu scheinen. Sie stand zur gewohnten Stunde auf, kleidete sich mit Sorgfalt an, aß und trank wie sonst, obgleich es ihr augenscheinlich nicht schmeckte, und ging sogar in Gesellschaft, wenn sie geladen wurde. Dabei aber verfiel ihre Gestalt mehr und mehr; ich konnte die alte Dame nicht ohne Herzweh ansehen. Der Tod hatte sie schon mit einer Hand gefaßt, sie aber wehrte und sträubte sich, ihm zu folgen. So schleppten wir uns durch den Herbst und Winter.

Ein paar Mal versuchte ich es schüchtern, sie auf das hinzuweisen, was uns angesichts des Abschieds von dieser Welt allein getrosten Mutes zu erhalten vermag, wurde aber jedes Mal kurz ab- und zur Ruhe gewiesen.

Einmal sagte sie: „Mamsell Nelly, Sie reden ja wie ein Schwarzrock auf der Kanzel, aber – das merken Sie sich – Doktor, Apotheker und Pastoren, die wären am besten gar nicht geboren.“

Ein anderes Mal drohte die Sache noch ernster zu werden. Auf ihren angstvollen Ausruf, daß es doch schrecklich sei, sterben zu müssen, hatte ich gesagt, daß unser Herr Jesus ja für uns den Tod überwunden habe, und das wir uns nur an Ihn zu halten brauchten, um sicher auch durchs dunkle Todestal geführt zu werden, worauf meine Herrin wegwerfend geantwortet: „Sie scheinen viel überflüssige Religion zu haben, da Sie mir, trotzdem ich mir diesen Segen mehrmals verbeten habe, immer wieder von Ihrem Reichtum mitteilen wollen. Für Sie und Ihresgleichen – ich meine das arme, niedrige Volk – mag diese Sache gut sein, für gebildete Leute paßt dergleichen nicht.“

Ich war so keck, zu entgegnen, daß unser Herr Jesus derselben Ansicht gewesen sein müsse, denn einmal habe Er gesagt, daß den Armen das Evangelium gepredigt werde, und ein anderes Mal, daß die Reichen nur schwer ins Himmelreich kommen.

Hierauf sah meine Herrin mich mit ihren kleinen grauen Augen durchdringend an und sagte scharf: „Mamsell Nelly, über fünf Jahre erziehe ich jetzt an Ihnen, aber Sie machen meiner Erziehung wenig Ehre, denn Sie wissen immer noch nicht, was sich für Sie geziemt; Sie sind noch ganz derselbe naseweise Grünschnabel, der Sie von Anfang an gewesen.“

Von jetzt an hörte ich die Klagen meiner Herrin stillschweigend an; aber auch das war ihr nicht recht, denn einmal, nachdem sie von Todesfurcht gemartert lange geklagt und geseufzt hatte, brach sie in die Worte aus: „Sie müssen gar kein Herz haben, da Sie mein Elend so stumm und teilnahmslos ansehen können.“

Ich antwortete ihr mit Tränen aufrichtigen Mitleids in den Augen, daß ich nicht teilnahmslos sei, daß ich ihr aber nichts Tröstliches zu sagen wisse. Da wandte sie sich seufzend ab.


Es war ein trauriger Winter, den wir durchlebten. Hätte ich nicht das stille, friedliche Haus vor dem Tore mit seinen lieben Bewohnern gehabt, ich würde ein solches Leben nur sehr schwer haben ertragen können. So aber freute ich mich von einem Tage zum anderen auf das Nachmittagsstündchen im Häuschen vor dem Tore. Es waren gesegnete Stunden, die ich dort verbrachte; wie manche Glaubens- und Geduldsstärkung ist mir dort geworden!

Geistig und körperlich erfrischt, kehrte ich von meinen Spaziergängen heim.

Gott sorgte sichtlich für mich; Er gab mir schwer zu tragen, aber Er ließ es auch an Hilfe nicht fehlen. Blicke ich jetzt auf diesen Winter in Mamsell Mummels Hause zurück, so muss ich bekennen, daß derselbe mir für die Entwicklung meines geistlichen Lebens sehr förderlich gewesen ist; denn in demselben habe ich auf der einen Seite das ganze Elend eines Menschenherzens ohne Gott ermessen lernen, und bin auf der anderen Seite durch eigene und fremde Not immer mehr in eine lebendige, selige Gebets-Gemeinschaft mit Gott geführt worden. Gott gibt Sonnenschein und Regen, je nachdem wir es nötig haben.


1)  Lukas 2,29-30


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